Meine Cousine Emilia: Roman (German Edition)
Schatten, der Fermente des Traums. Im rosiggrauen Licht der Morgendämmerung gewann der Park sein alltägliches Aussehen zurück.
Das Restaurant im ehemaligen Bahnhof war leer, bis auf einen Kellner, der die Bierkrüge von den Tischen einsammelte. Er wirkte schläfrig. Auf dem Tümpel schaukelte verlassen einStrohhut; die Frösche waren verstummt. Wir schleppten uns über die Wege. Najden hatte sein aus der Bank gebrochenes Brett weggeworfen, Pavle Kondratenko, Nestor und der kleine Miroslav schwangen Eisenstangen und Ast und köpften die Disteln. Auf den anderen Wegen sah man, wie auch die Übrigen von der Jagd zurückkehrten. Die Gesellschaften zerstreuten sich, man hörte Abschiedsrufe, Gelächter, spöttische Zurufe.
Am Parkeingang stand der grün gestrichene Wagen, der normalerweise das Eis zu den kleinen Limonadengeschäften brachte. Jetzt war er mit den toten Einhörnern beladen. Ihre Beine waren bereits steif: Es sah aus, als wären sie mitten im Sprung getötet worden. Ihre Köpfe hingen über die Seiten des Wagens herab, von ihren Mäulern tropfte Blut. Šaban, noch immer im schwarzen Sonntagsanzug, schleppte ein weiteres Einhorn herbei, das im Gebüsch vergessen worden war. Er warf es mit Mühe auf den Haufen und der Wagen fuhr los.
Wir standen auf der Kreuzung: Hier trennten sich unsere Wege. Nestor brummelte etwas zum Abschied und ging fort, der kleine Miroslav hinkte ihm hinterher. Najden die Klette und Pavle Kondratenko machten eine kaum wahrnehmbare Abschiedsgeste und gingen in die andere Richtung. Der erste Autobus fuhr vorbei, ganz leer.
»Soll ich dich nach Hause begleiten?«, fragte ich Emilia.
Sie hatte Gänsehaut vor Kälte, stand mitten auf der Straße, dem Park zugewandt, und sah mich nicht an.
»Nein«, sagte sie, »lass uns ins Hotel Lissabon gehen. Ich will mit dir zusammen sein. Meinst du, sie geben uns ein Zimmer?«
L ETZTE E RZÄHLUNG ÜBER E MILIA
Es gab Augenblicke, in denen ich meine Cousine Emilia nicht wiedererkannte. Am späten Nachmittag, wenn die winterliche Dämmerung die vertrauten Zimmer wundersam fremd erscheinen ließ, wenn die samtenen Tagesdecken auf den Betten sanft glänzten wie Katzenfell und die gestickten Blümchen auf den kleinen Kissen in fiebriger Hitze glühten, legte sie das Buch, in dem sie gerade las, einen Moment lang beiseite, neigte sich zu mir und wisperte: »Ich bin nicht Emilia.« Wenn ich dann den Blick von meinem Buch hob, wiederholte sie: »Ich bin nicht Emilia. Nenn mich Isabella.«
In solchen Augenblicken bekam ich Angst vor ihr.
Die Dämmerung verdichtete sich in den Zimmerecken, das Ofentürchen glühte rot, die Äpfel und Quitten, die in Reih und Glied auf dem Schrank lagen, erfüllten den Raum mit dem süßlichen Duft von Früchten, die ihren Saft verlieren und vertrocknen, und Emilias Augen, die starr auf einen Punkt gerichtet waren, an den die anderen ihr nicht folgen konnten, nahmen einen abwesenden Ausdruck an. »Nenn mich Isabella«, sagte sie leise. Ihr undeutliches Flüstern vermischte sich mit der trügerischen Dämmerung. Das Licht, das vom Ofentürchen kam, tanzte auf ihrer Wade: Über dieHaut liefen flüchtige Schatten in Form von Herzen, Blättern oder Lanzen – als würde eine feurige Zunge ihr liebevoll über das Bein lecken und sich in herausforderndem Spiel gleich wieder zurückziehen.
»Du spinnst doch«, sagte ich, näherte mein Gesicht ihrem Haar und atmete den Duft von Zimt und Vanille ein, der immer in den Geruch ihres Schweißes gemengt war. Sie blickte mich mit aufgerissenen Augen an, als sähe sie mich zum ersten Mal, und sagte hartnäckig noch einmal: »Ich bin Isabella.«
»Ich bin Isabella«, wiederholte sie und ersann haarsträubende, unwahrscheinlich klingende Geschichten über ihre Herkunft, über die Wege, auf denen sie in unsere Stadt gelangt sein wollte, über ihre Eltern und über die Orte, die angeblich mit ihrer Geburt verbunden waren. Es gab darunter Berichte über eineiige Zwillinge und vertauschte Kinder, über geheimnisvolle Entführungen und bösartige Erpressungen, über Familiengeheimnisse und unverhofft entdeckte Dokumente und über verwickelte Verwandtschaftsverhältnisse und eigenartige Verflechtungen von Schicksalen. Ich fand immer die Schwachpunkte dieser Geschichten heraus, die Lücken, die fehlenden logischen Zusammenhänge und die nicht überzeugenden Wendungen, aber sie fügte dann sofort neue Details, Rechtfertigungen und Beweise hinzu und nannte, um ihre Behauptungen zu
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