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Meine erste Luege

Meine erste Luege

Titel: Meine erste Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Mander
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lachen, aber auch kotzen muss, der Geruch nach Kotze, der einem auch nachher in der Nase bleibt, jetzt immer noch. Ich hasse Nudeln mit Soße, wenn sie wirklich da sein muss, die Soße, dann soll sie wenigstens extra sein und nicht mit allem vermischt werden. Wenn du in solchen Fällen ein Gespräch mit dem Schulpsychologen hast, erzählen sie hinterher den Eltern, dass du traumatisiert bist, so, wie wenn du entdeckst, dass du nur einen Elternteil hast statt zwei oder deine Mama mit dem Elternteil von jemand anderem im Bett liegt.
    Â»Kindliches Trauma.«
    Nur kleiner, wenn es wegen Nudeln mit Soße ist.
    Jedenfalls beherrsche ich mich. Ich will nicht, dass alle sehen, was ich zum Frühstück gegessen habe: eine Schale trockene Flocken wie das Trockenfutter von Blu. Ich schlucke einen sauren Geschmack nach Joghurt runter, auch wenn der Joghurt heute Morgen alle war, ich habe den Becher ausgeleckt und versucht, mit der Zunge nach ganz unten zu kommen, habe den Aludeckel sorgfältig gesäubert, bis ich nur noch Alu geschmeckt habe, was sich an den Zähnen hinten metallisch anfühlt.
    Draußen hat es wieder angefangen zu regnen, kein schöner, nützlicher Regen, sondern ein nutzloser Regen, der dich schläfrig macht, in dem die Umrisse der Dinge verschwimmen und bei dem du denkst: Der hört nie auf.
    Auch in mir drin regnet es so.
    Wenn ich mich im Unterricht langweile, lese ich normalerweise unter der Bank, zeichne oder gehe im Gedächtnis das Vokabular von Mama durch und versuche, die Geheimnisse der Wörter zu ergründen: Nostalgie, leidenschaftliche und schmerzhafte Sehnsucht nach Menschen, Dingen und Orten, zu denen man zurückkehren möchte; Neuralgie, Nervenschmerzen, damit ist nicht zu scherzen und so weiter. Ich denke mir eigene Übungen aus, zähle die Löcher der Holzwürmer, von denen die Fensterrahmen von Ewigkeit zu Ewigkeit, amen, zerfressen worden sind, so vergehen die Stunden schneller.
    Manchmal bin ich mit einem Teil vom Kopf aufmerksam und phantasiere mit dem anderen. Ich stelle mir vor, dass es jenseits der Dächer und der Schornsteine und der Handy-Antenne das Meer und blauen Himmel und Piratenschiffe gibt, und die Piraten jagen keine Wale mehr, sondern nur noch Walfänger. Eine Taube, die auf den Rahmen kackt, ist ein Albatros, der auf der Rahe hockt. Ich sage niemandem, dass ich das kann, denn die Erwachsenen glauben nicht, dass es so einfach ist, sie glauben, dass man immer nur eine Sache auf einmal machen soll, man kann nicht sprechen und essen, sich die Hosen anziehen und gehen, zeichnen und lernen, träumen und wach bleiben. Wenn ich an was ganz anderes denke, muss ich nur achtgeben, wohin meine Augen wandern, sonst sieht es aus, als sähe ich Gespenster, wie Mama, wenn sie sagt, dass Papa sich in Luft aufgelöst hat, und das Gemälde mit dem schlechten Wetter anstarrt.
    Zu Hause, wenn ich es nicht mehr aushalte, verkrieche ich mich in den Schrank, den nie jemand aufmacht, ich setze mich auf die Schublade zwischen die Kleider, die nach Mottenkugeln riechen, Mäntel mit Fischgrätmuster und weiß-blau karierte Stoffbeutel mit meinem Namen draufgestickt, in denen noch der Geruch nach Brot und Schokolade hängt. Ich denke ein bisschen nach, mit den abgetragenen Mänteln auf dem Gesicht, vielleicht weine ich, wenn es wirklich aus mir rausbricht, wische mir den Rotz mit dem Ärmel eines alten Hemds ab. Das geht dann vorbei, und außerdem will ich nicht, dass Mama sich zu viele Sorgen macht.
    Mama. Mama. Mama.
    Die Erinnerung an Mama ist mir wieder im Kopf hochgeschossen.
    Ein Geysir aus Angst. Ich habe solche Angst, dass irgendjemand was merken könnte.
    Weißt du, was ein Doktor zu einem Skelett sagt, das in die Sprechstunde kommt?
    Das schreibe ich auf ein Briefchen, das ich zu Andrea durchgebe.
    Er schüttelt den Kopf.
    Konnten Sie nicht früher kommen?
    Das schreibe ich auf ein neues Briefchen.
    Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass er lacht.
    Ich bin gerettet.
    Alles ist in Ordnung.
    Als wir aus der Schule kommen, gießt es.
    Nadelfeiner, eiskalter Regen. Ich habe meine Kappe vergessen. Um nicht nass zu werden, muss ich nah an Arschgesicht vorbei. Es ist ein Risiko, das ich eingehen muss, weil ich nicht riskieren kann, krank zu werden. Ich hoffe von ganzem Herzen, er sagt nicht wieder mit seiner bösen Lästerzunge:
    Â»Waisenjunge-Waisenjunge-Waisenjunge!«
    Vor nicht so langer Zeit, am Jahrestag

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