Meine erste Luege
Ich schreie lauter. Niemand kann mich hören.
Am Wochenende sind alle weg.
»Hoppla, hoppala!«
Wieder ich, ganz klein, in die Luft geworfen, Gefangener einer Mädchendecke, der Kronleuchter mit den Tropfen aus Glas immer näher, ganz, ganz nahe, die Angst, dass sie es nicht wirklich schaffen, mich wieder sicher aufzufangen, habt Mitleid mit mir, lasst mich runter.
»Hoppala, ist das nicht schön, so in den Himmel zu fliegen?«
Ich habe Angst, ich sterbe vor Angst.
Ich schreie, ich schreie, wie sie in Horrorfilmen schreien, ich schreie, als spürte ich auf einen Schlag all die Schmerzen, zu denen es nicht gekommen ist, all die Male, die ich nicht gefallen bin und überlebt habe, ich schreie, als wäre ich ein Schrei und sonst nichts.
In der eiskalten Grotte von Mamas Zimmer wird der Schrei hart wie ein Stalagmit.
Ich renne hinaus und schwöre, da nie wieder reinzugehen.
Ich laufe ins Bad, um mir Gesicht und Hände zu waschen.
Die Angst hat mich ganz besetzt. Wieder habe ich Mühe, Luft zu kriegen. Ich kauere mich in den Sessel im Wohnzimmer und spüre, dass ich Pipi machen muss. Ich müsste aufstehen und noch einmal ins Bad gehen, doch ich bleibe im Sessel hocken.
Ich will den groÃen Canyon des Flurs nicht noch einmal überqueren, den von sinnlos heulenden Krokodilen nur so wimmelnden Wassergraben.
Der Tränentank ist wieder leer, doch Pipi muss ich viel machen. Eine Weile versuche ich noch, es zurückzuhalten. Dann schaffe ich es nicht mehr. Ich spüre, wie die warme Flüssigkeit mir an den Beinen hinunterflieÃt, und gleichzeitig spüre ich eine Wärme, die immer weiter in den übrigen Körper aufsteigt, also strenge ich mich an, dass das Pipi schneller kommt. Ich wringe mich aus wie einen Putzlappen, der Sessel wird ganz schmutzig, ich weiÃ, ich darf das nicht, aber ich habe Lust, es zu tun. Während der Pipirand sich auf dem gelben Cord, der dunkelbraun wird, immer weiter ausdehnt, entdecke ich, dass es schön ist, so zu pinkeln.
Blu kommt näher, ich puste ihm ins Gesicht, er verzieht sich.
Ich bin leer, aber ich möchte weiterpinkeln.
Ich möchte von jetzt an überallhin pinkeln, wie es läufige Katzen tun. Ich möchte Blu sein und pinkeln, wo es mir gerade kommt. Ich möchte pinkeln und pinkeln und nie mehr aufhören zu pinkeln. An die Türpfosten, an die Stuhlbeine, auf die Sitze in der StraÃenbahn, neben alte Damen, aus deren Einkaufstaschen Selleriestängel für die Brühe ragen, ganz als würde unerwartet die Natur durchstoÃen. Ich möchte auf meine Schulbank pinkeln und den Pinkelregen hören, der rhythmisch auf den LinoleumfuÃboden ein romantisches Gedicht tröpfelt. Ich möchte auf die Köpfe der groÃen Herrschaften pinkeln, oder auf die von denen, die sie in der letzten Zeile des Zeugnisses vertreten, und ich möchte Flecken auf die Beurteilung derer machen, die zu wenig wissen, um etwas beurteilen zu können, wie damals, als ich Paris mit vielen Ps auf das Ãbungsheft gespuckt habe. Ich möchte auf das Leben der Besserwisser pinkeln, die alles zu wissen meinen und gar nichts wissen, und auf mein Leben, in dem ich Paris vielleicht nie sehen werde.
Ich bin erschöpft.
Ich möchte wieder pinkeln.
Aber ich kann nicht.
Ich habe nichts mehr in mir drin.
Auch der Pipitank ist leer.
Ich bin voller Leere.
Es ist erst drei Uhr nachmittags.
Noch immer im Sessel, betrachte ich den Fleck, der noch gröÃer geworden ist und wie eine stumme Landkarte aussieht, eine von denen, wo du die Namen der Länder, der Städte, der Berge und der Seen eintragen musst, aber du kannst es nicht tun, weil du es nicht schaffst zu erraten, um welches Land es sich handelt. Ich spüre die nasse Wärme der Hose, die mir an den Beinen klebt, ich versuche mir vorzustellen, wie es sein wird, wenn alles zu Ende ist, auch wenn es gerade erst angefangen hat.
Ich weià es nicht.
Ich weià nur, dass ich nicht in einem Heim enden will.
Ich will in dieser Wohnung bleiben, sie ist schön, auch wenn mir Omas Möbel nicht gefallen. Ich will nicht nur einen kleinen Spind aus Metall für meine Sachen haben, und ich will kein Neonlicht, das die Leute blass wie im Leichenschauhaus macht, und ich will nicht bei jeder Sache um Erlaubnis fragen müssen, und ich will nicht jeden Morgen rohes Ei trinken müssen, wozu mich die Nonnen gezwungen haben, und ich will keine grauen Decken und
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