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Meine erste Luege

Meine erste Luege

Titel: Meine erste Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Mander
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jedenfalls ist er da, und drinnen leben die Penner, die, weil sie obdachlos sind, sich damit zufriedengeben, unter einem Dach zu leben, das ihnen jeden Moment auf den Kopf fallen kann. Auch die Penner, da bin ich mir sicher, sagen sich, besser hier als in einem Heim für Penner.
    Ich gehe zu Mama und lese ihr die Beurteilungen vor.
    Zum ersten Mal, seit sie nicht mehr aufsteht, lege ich mich neben sie.
    Mit meinem Gewicht fixiere ich einen ihrer Arme unter der Decke.
    Ich strecke mich neben ihr aus, als hätten wir viel Zeit vor uns. Ein ganzes Wochenende.
    Als hätten wir endlos Zeit, um einer neben dem anderen liegen zu bleiben. Als wären meine Zeit und ihre Zeit gleich.
    Ich weiß, dass sie wahrscheinlich die Beurteilungen der anderen nicht mehr interessieren, aber mich interessiert auch nicht, dass sie tot ist, dass sie komische Flecken im Gesicht hat, dass ich trotz meiner verstopften Schnupfennase meine, dass sie zu riechen begonnen hat. Wenn jetzt nicht alles so kompliziert wäre, würde ich sagen, es ist egal, ich kann sie gewissermaßen verstehen, dass sie keine Lust mehr gehabt hat zu leben.
    Aber vielleicht hätten wir es zusammen schaffen können, wenn sie nur daran gedacht hätte, dass ich da war, nicht nur, um dem Kater neue Katzenstreu zu geben oder um zu wachsen und ihr Probleme zu machen. Das hätte ich ihr deutlicher sagen sollen, und dann hätte sie vielleicht erklären können, was es war, das wirklich nicht mehr ging. Wir hatten einen Pakt. Ich weiß auch nicht, wer ihn gebrochen hat.
    Gegenüber vom Bett steht die Kommode, und auf der Kommode sind silberne Rahmen mit Fotos drin: ich auf der Schaukel, Oma, die aussieht wie die Madonna von Loreto, Mama bei der Feier zu ihrem Uniabschluss, mit einem Gesicht, als wäre sie auf der falschen Feier, ein Foto von Blu, gemacht an dem Tag, als er zu uns gekommen ist. Die Kommode von Mama ist die von Oma. Wir haben nur die schönsten Fotos aufgestellt, alle Arschgesichter sind abgeschnitten, weil sie nicht ins Bild passen.
    Ich sehe Mama an und denke, dass sie alles in allem sehr viel besser ist als Andreas Mama. Auch jetzt, wo sie so anders ist.
    Ich suche auf der Kommode nach dem Plastikbeutel mit den Schminksachen, er muss hier sein, auch wenn sie sie nicht oft benutzt.
    Ich finde einen Lippenstift und eine kleine muschelförmige Dose, ich glaube, das ist Puder, ein rissiger rosa Staub, wie ein Stück Wüste mit einer Puderquaste darauf.
    Ich gehe zu Mama und versuche, ihr die Lippen anzumalen. Es ist nicht einfach, den Umrissen der Lippen zu folgen. Das Rot des Lippenstifts dringt in die Falten um den runzlig gewordenen Mund ein, alles verläuft, eine schöne Schmiererei. Ich versuche es mit der Puderquaste wiedergutzumachen und male ihr ein wenig die angeschwollenen Wangen an. Ich weiß nicht, ob sie zufrieden ist, aber vielleicht ja.
    Sie sieht ein bisschen lächerlich aus, so geschminkt.
    Â»Wie schön mein himmlisches Röschen ist«, sagte Oma zu ihr und sagte damit wie immer ganz und gar das Gegenteil von allem.
    Ich lege mich wieder hin, versuche daran zu denken, wie es früher war.
    Ich schließe die Augen und strenge mich an, mich zu erinnern, wie sie war, wenn sie gut geschminkt war, gut frisiert und gut angezogen. Mit geschlossenen Augen sehe ich mir die silbernen Rechtecke der Rahmen mit den Fotos an. Auf den Fotos sehe ich sie, ganz elegant und weiß gekleidet, mit mir als Kleinem auf dem Arm. Man hat mich in eine gestickte Decke mit aufgenähten rosa Stoffblümchen gewickelt, rosa oder himmelblau? Rosa, sie waren wirklich rosa, vielleicht erwartete Mama, dass ich ein Mädchen wäre.
    Â»Ich habe es dir ja gesagt, meine liebe Tochter, einen Jungen großzuziehen ist Krieg.«
    Â»Also bitte, sag so etwas doch nicht vor dem Jungen.«
    Ich nuckle an der warmen und weichen, für jemand anderen gestickten Decke, als wäre sie eine Brust. Fast ersticke ich wegen einem Wollfaden, der mir in den Hals gerät; er schiebt sich in die Nase, schlägt giftige Wurzeln, die sich mit den Venen verschlingen, wächst und sprengt mich von innen, wie die Bäume, die die Straße aufplatzen lassen. Ich bin wieder im Krankenhaus, die Krankenschwestern klauen mir wieder die Kekse. Alles geht von vorne los, wie beim Gänsespiel, das man an Neujahr spielt.
    Die Gans, die die Blumenfrau zu Weihnachten gegessen hat.
    Ich werde wach und schreie, neben mir liegt eine Leiche!

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