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Meine Freundin Jennie

Meine Freundin Jennie

Titel: Meine Freundin Jennie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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jedesmal, wenn er an einen bestimmten Ort dachte, an dem Jennie sich vielleicht aufhalten konnte, sogleich einredete, sie könne gar nicht woanders sein, und dann machte er sich schleunigst dahin auf den Weg, und malte sich dabei ganz genau aus, wie er auf sie zugehen, was er ihr sagen, was sie für ein Gesicht machen und was sie ihm antworten würde. Und so war er auch jetzt fest davon überzeugt, daß er an Bord der Gräfin alles so vorfinden mußte, wie es damals gewesen war, und sah in Gedanken bereits wieder, wie Mr. Strachan mit seinem Säbel auf seine Strohpuppe einhieb, wie Mr. Carluke die Finger krümmte und so tat, als schieße er mit Pistolen auf Bösewichter und Rothäute, und wie Jennie hoch oben auf ihrem Lieblingsplatz thronte, dem Flaggenschrank und dem Achterdeck, während aus Kapitän Sourlies’ Kajüte das Geräusch von zersplitterndem Glas und zerbrechendem Steingut erklang.
    Die Gräfin von Greenock lag tatsächlich im Hafen, aber außer den kummervollen Tönen eines melancholischen Liedes, die von mittschiffs an Peters Ohr drangen, war kein einziger Laut zu hören. Die gesamte Mannschaft und auch die Offiziere waren offenbar an Land gegangen und hatten nur Mealie, den Koch, an Bord zurückgelassen.
    Der Neger saß oben an Deck auf einem Hocker neben der Laufplanke, rollte die Augen und sang traurig vor sich hin. Seinen scharfen Augen entging jedoch nichts, und als Peter unten am anderen Ende der Laufplanke um die Ecke lugte und zum Schiff hinaufblickte, hörte Mealie sofort auf zu singen und rief Peter zu: «Hallo, Weißfell! Hallo, was machst du denn hier? Ich dich wiederkennen, ich nie wen vergessen, den ich einmal gesehen habe. Wo du haben die ganze Zeit gesteckt? Wo du haben deine Freundin gelassen? Du wohl nach ihr suchen, was? Sie aber nicht hier gewesen... Warum ihr beide nicht kommen zurück? Wir wieder haben viele Mäuse und Rotten an Bord.»
    Als Peter hörte, daß Jennie nicht da war, fühlte er sich so niedergeschlagen, daß er wie angewurzelt stehenblieb und sich überhaupt nicht zu rühren vermochte, als habe ihn diese Enttäuschung plötzlich versteint. Er hatte so fest geglaubt, daß Jennie auf dem Schiff sein würde, daß sie sich nur hierher geflüchtet haben könne, und so blickte er in stummer Verzweiflung zu Mealie auf.
    Es war erstaunlich, wie gut der Schwarze ihn zu verstehen schien. Er stand von seinem Hocker auf, schüttelte mehrmals den Kopf und sagte: «Du mich nicht so ansehen brauchen, Weißfell. Ich dir doch gesagt haben, daß deine Freundin nicht hier! Aber vielleicht sie später auch herkommen...» Dann kicherte er laut, lief bis zur Mitte der Laufplanke hinunter und rief: «Du, Weißfell! Ihr zurückkommen und wieder arbeiten, ja? Ich euch auch gute Heuer zahlen, Lammbraten am Sonntag und alles, was ihr gern mögen. Und auch Milch genug. Nun, was du meinen, Weißfell? Du aussehen, als ob du innen ganz hohl vor lauter Hunger...»
    Peter hatte jetzt solche Angst, daß Mealie ihn womöglich am Genick packen, an Bord tragen und dort in seiner Kombüse einsperren würde, daß er, bevor der Koch noch einen Schritt näherkam, kehrtmachte und davonrannte, während ihm wieder die Augen brannten, weil er in seiner Enttäuschung und seinem Kummer die Tränen nicht zurückzudrängen vermochte. Er lief so schnell und so weit er nur konnte, aber sehr weit kam er nicht, denn es war schon so lange her, seit er irgend etwas gegessen hatte, daß er doch recht wacklig auf den Beinen war und sich außerdem ganz schwindlig fühlte, als sei er nicht mehr ganz richtig im Kopf, da er plötzlich anfing, sich alles mögliche einzubilden.
    Das nahm die merkwürdigsten Formen an, so hatte er zum Beispiel an dieser oder jener Stelle, an der er gerade vorüberkam, das Gefühl, schon einmal dort gewesen zu sein, und natürlich in Begleitung von Jennie. Diese Einbildung war so stark, daß Peter sich sogar umwandte, um Jennie etwas zu sagen, nur, um dann festzustellen, daß sie gar nicht da war und er die Straße, in der ihn dieses sonderbare Gefühl überkam, überhaupt nicht kannte, und so irrte er weiter in der Londoner Steinwüste umher wie in einer Wildnis, aus der er nicht mehr herausfinden konnte.
    Eines Abends, als er, immer noch auf der Suche nach Jennie, bei Wapping an den finsteren hohen Lagerhäusern entlangstolperte und dabei an einer Bretterwand mit einem Malzextrakt-Plakat vorüberkam und dicht daneben einen freistehenden Briefkasten erblickte, hatte er wieder das Gefühl, hier

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