Meine Freundin Jennie
sollte ich meinen.»
«Ja, aber was gibt es denn draußen, wovor man sich fürchten muß?» fragte Peter. «Ich meine, schließlich kennt man doch die Straße und die Häuser, da, wo man wohnt, und da ändert sich doch auch nichts...»
«Ach, du meine Güte», unterbrach ihn Jennie, «das kann ich dir so schnell gar nicht aufzählen, was es da alles gibt. Zunächst mal die Hunde und dann die Menschen; und diese unzähligen Fahrzeuge; das Wetter, das man gerade erwischt — manchmal ist es zu warm und manch, mal zu kalt; der Zustand der Straße, ob sie naß oder trocken, sauber oder schmutzig ist; nicht zu vergessen, was draußen alles herumliegt; ob gerade ein Auto am Bordstein parkt und ob gerade jemand längs kommt, auf welcher Straßenseite und in welchem Tempo.
Es ist ja gar nicht so, daß du richtige Angst hast. Du willst dich eben bloß orientieren. Und wenn du gescheit bist, tust du das auch, und zwar gründlich und rechtzeitig, über alles, was deine Augen, deine Ohren, deine Nase und die Enden deiner Schnurrhaare wahrnehmen. Und deshalb bleibst du erst einmal stehen und guckst und horchst dich um und streckst sozusagen deine Fühler aus. Wir haben ein Sprichwort: Der Himmel ist überfüllt mit jungen Katzen, die auf die Straße hinausgestürzt sind, ohne sich vorher umzuschauen und ein bißchen zu schnuppern.
Es kann ja eine andere Katze in der Nähe sein, die Böses im Schilde führt oder auf Streit aus ist. Da vergewisserst du dich doch lieber, ehe du dich auf etwas einläßt, worauf du gar nicht vorbereitet bist. Und du möchtest doch auch über das Wetter Bescheid wissen, nicht nur, wie es im Augenblick ist, sondern auch, wie es später, sagen wir, in einer Stunde sein wird. Denn wenn es Regen oder Gewitter geben sollte, wirst du dich ja nicht zu weit von zu Hause entfernen wollen. Und ob das Wetter umschlägt oder nicht, das liegt schon in der Luft, und du spürst es an deinem Fell und deinen Schnurrhaaren.
Und jedenfalls», schloß Jennie, «ist es ganz allgemein ein vernünftiger Grundsatz, nichts zu überstürzen. Wenn du irgendwohin willst, läuft dir dein Ziel ja nicht weg, und deine Chancen, dahinzugelangen, sind viel größer, wenn du noch fünf Minuten wartest. Komm her und setz dich hier neben mich, und dann werden wir uns mal ein bißchen umgucken.»
Peter befolgte ihren Rat, ließ sich neben ihr nieder und schlug die Pfoten unter, als habe er das schon immer getan, und er war plötzlich heilfroh, daß Jennie ihn zurückgehalten hatte und er nicht einfach losgerast und in Gott weiß was hineingerannt war.
Immer wieder sah er Füße Vorbeigehen, und er lernte sie bald unterscheiden, je nachdem, wie schnell sie sich fortbewegten, wie nahe sie der Mauer des Lagerhauses kamen und wie sie beschuht waren. Meist steckten sie in den schweren Stiefeln, wie die Arbeiter sie tragen. Auf dem Fahrdamm aber rumpelten und ratterten mit lautem Getöse schwere Wagen vorüber, Pferdefuhrwerke und Lastautos, und die Räder und besonders die Füße der Pferde — klobige Ungetüme mit zottigen Kötenhaaren — waren noch viel gefährlicher als die Füße der Menschen. Weit weg hörte Peter den Big Ben vier schlagen. Wäre er noch ein Junge gewesen, hätte er die Glockenschläge vom Parlamentsgebäude wohl kaum vernommen, jetzt aber drang der Schall trotz der großen Entfernung ganz deutlich an seine Katzenohren und verriet ihm, wie spät es war.
Jetzt entdeckte er auch, wie empfindlich seine Nase geworden war, und er versuchte, die verschiedenen Gerüche, die er erschnupperte, zu ergründen. Da roch es plötzlich ganz stark nach Tee. Und dann witterte er einen höchst sonderbaren Geruch, dessen Herkunft er sich nicht erklären konnte. Er wußte nur, daß er ihn nicht mochte. Aber sonst unterschied er noch den Geruch von Segeltuch, Maschinenöl, Parfüms und Gewürzen, Pferden, Benzin und Auspuffgasen, Teer und auch einen schwachen Kohlendunst, der ihn an den Rauch einer Lokomotive erinnerte.
Jennie hatte sich inzwischen erhoben und steckte nun den Kopf aus dem Rohr hinaus. Ein Zittern überlief sie, sie sträubte die Schnurrhaare, und immer wieder rümpfte sie ihr putziges Näschen. Nach einer kleinen Weile wandte sie sich jedoch völlig entspannt zu Peter um und sagte: «Alles klar! Jetzt können wir gehen. Katzen sind keine da. Bloß ein Hund ist hier vorbeigeschlichen, aber wahrscheinlich nur so ein räudiger Köter, der vor seinem eigenen Schatten Angst hat. Ein Tee-Schiff hat gerade festgemacht. Das
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