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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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Familie gesichert gewesen wäre. In Twichells Fall aber hätte ein Risiko – ja, ein großes Risiko – bestanden. Dass er oder irgendein anderer Experte die Grundstückspreise in West Hartford in die Höhe getrieben hätte, ist meiner Meinung nach ganz und gar zweifelhaft. Ich denke, als Mr. Hubbard an jenem Abend Angst und Schrecken verbreitete, strapazierte er seine Phantasie bis zur Höchstbelastung. Ich glaube, für Twichell war es das Sicherste, zu bleiben, wo er war, falls man ihn ließ. Er rettete seine Familie, und das war meiner Meinung nach seine erste Pflicht.
    In diesem Land gibt es vielleicht achtzigtausend Prediger. Nicht mehr als zwanzig darunter sind politisch unabhängig – die anderen können gar nicht politisch unabhängig sein. Sie müssen die ganze Parteiliste ihrer Gemeindewählen. Das tun sie und tun recht daran. Sie selbst sind der Hauptgrund, warum sie keine politische Unabhängigkeit genießen, denn von der Kanzel predigen sie keine politische Unabhängigkeit. Sie haben großen Anteil daran, dass die Menschen dieser Nation keine politische Unabhängigkeit genießen.
     
    1. Februar 1906
    Morgen ist unser sechsunddreißigster Hochzeitstag. Vor einem Jahr und acht Monaten ist meine Frau in Florenz, Italien, nach zweiundzwanzigmonatiger Krankheit aus dem Leben geschieden.
    Zum ersten Mal hatte ich sie im Sommer 1867 in der Bucht von Smyrna gesehen, in Form einer Elfenbeinminiatur in der Kabine ihres Bruders Charley auf dem Dampfschiff
Quaker City;
da stand sie in ihrem zweiundzwanzigsten Lebensjahr. In natura sah ich sie zum ersten Mal im darauffolgenden Dezember in New York. Sie war schlank und schön und mädchenhaft – und sie war beides, Mädchen und Frau. Sie blieb beides, Mädchen und Frau, bis zum letzten Tag ihres Lebens. Unter einem ernsten, sanften Äußeren loderten unauslöschliche Feuer der Anteilnahme, Tatkraft, Hingabe, Begeisterung und einer absolut grenzenlosen Zärtlichkeit. Körperlich war sie
immer
zerbrechlich, und sie zehrte von ihrem Geist, dessen Zuversicht und Mut unverwüstlich waren. Vollkommene Wahrhaftigkeit, vollkommene Aufrichtigkeit, vollkommene Freimütigkeit waren ihre angeborenen Charaktereigenschaften. Ihr Urteil über Menschen und Dinge war sicher und genau. Ihre Intuition täuschte sie fast nie. In ihrem Urteil über Charakter und Taten von Freunden wie Fremden fand sich immer Platz für Nächstenliebe, und diese Nächstenliebe versagte nie. Ich habe sie mit Hunderten von Menschen verglichen, und es bleibt meine Überzeugung, dass sie den vollkommensten Charakter besaß, dem ich je begegnet bin. Und ich möchte hinzufügen, dass sie der gewinnendste und würdevollste Mensch war, den ich je gekannt habe. Ihr Charakter und ihr Wesen waren von der Art, dass sie zur Verehrung nicht nur einluden, sondern sie geradezu erzwangen. Kein Diener, der zu bleiben verdient hätte, schied je aus ihren Diensten. Und da sie sie mit einem Blick einzuschätzen wusste, verdienten die Diener, die sie auswählte, in fast allen Fällen zu bleiben und
blieben
auch. Sie war immer heiter; und immer vermochtesie ihre Heiterkeit anderen mitzuteilen. In den neun Jahren, in denen wir in Armut und mit Schulden lebten, holte sie mich immer wieder aus meiner Verzweiflung heraus, sah stets den Silberstreif am Horizont und machte, dass auch ich ihn sah. In all der Zeit habe ich von ihr nie ein Wort des Bedauerns über unsere veränderten Lebensumstände gehört und auch von ihren Kindern nicht. Denn sie hatte sie unterrichtet, und von ihr bezogen sie ihre innere Kraft. Die Liebe, mit der sie diejenigen beschenkte, die sie liebte, nahm die Form der Verehrung an, und in dieser Form wurde sie erwidert – erwidert von Verwandten, Freunden und den Dienern ihres Haushalts. Es war eine seltsame Kombination, die durch Heirat in
einem
Individuum gewissermaßen verschmolz – ihr Wesen und meins, ihr Charakter und meiner.
Sie verströmte ihre verschwenderische Zuneigung in Küssen, Zärtlichkeiten
und mit einem Vokabular von Koseworten, dessen Reichtum mich immer
wieder in Erstaunen versetzte.
Was Koseworte und Zärtlichkeiten anbelangt, war ich
zurückhaltend
zur Welt gekommen, und die ihren
brachen über mich
herein wie die Sommerwogen über die Felsen von Gibraltar
. Ich war in einer Atmosphäre der Zurückhaltung aufgewachsen. Wie ich bereits in einem früheren Kapitel gesagt habe, kannte ich kein Mitglied der Familie meines Vaters, das je ein anderes geküsst hätte – mit einer Ausnahme,

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