Meine geheime Autobiographie - Textedition
einem Geschäftsfreund! Vor einer Woche sprach ein Fremder von Vaters bemerkenswerter Gewohnheit zu geben, er hatte von seiner Großzügigkeit gehört. …
Ich erinnere mich noch sehr gut an Mr. Atwater. Es war nichts Städtisches an ihm oder seinen Gewohnheiten. Er war mittleren Alters und hatte sein ganzes Leben auf dem Land gewohnt. Er hatte das Aussehen eines Farmers und den Gang eines Farmers; er trug die Kleidung eines Farmers und auch den Ziegenbart eines Farmers, einen Schmuck, der in meiner Kindheit zwar allgegenwärtig gewesen, inzwischen aber in vielen westlichen und in allen östlichen Städten ausgestorben war. Er war offensichtlich ein guter, ehrlicherund aufrichtiger Mann. Er war Mr. Langdons bescheidener Helfer und viele Jahre bei ihm beschäftigt gewesen. Seine Rolle war die des Faktotums. Mussten Mr. Langdons Sägemühlen keiner wissenschaftlichen, sondern lediglich einer Inspektion durch den gesunden Menschenverstand unterzogen werden, wurde Atwater damit betraut. Waren wegen eines austrocknenden oder anschwellenden Flusses Mr. Langdons Holzflöße in Gefahr, wurde Atwater losgeschickt, um nach dem Rechten zu sehen. Atwater erledigte bescheidene Botengänge zu Mr. Langdons Kohlegruben; überprüfte ebenso Mr. Langdons Interessen auf den entstehenden Petroleumfeldern Pennsylvanias und erstattete Bericht. Mr. Atwater war
immer
geschäftig, immer in Bewegung, auf bescheidene Weise immer nützlich, immer religiös und nie grammatisch korrekt, außer wenn er gerade mal nicht redete und die Vorräte an seiner Art Grammatik aufgebraucht hatte. Er war tüchtig – will sagen, er war tüchtig, wenn er viel Zeit hatte. Von seiner Konstitution her war er langsam, und da er alle seine Angelegenheiten mit jedem erörtern musste, der des Weges kam, geschah es zuweilen, dass sich der Anlass für seine Dienste erledigt hatte, noch bevor er sie versehen konnte. Mr. Langdon hätte Atwater niemals entlassen, obwohl der junge Charley Langdon dies hin und wieder vorschlug. Der junge Charley konnte Atwater wegen dessen provozierender Saumseligkeit und behaglicher Zufriedenheit nicht
ausstehen
. Ich dagegen liebte Atwater. Atwater war in meinen Augen ein Prachtexemplar. Wenn er mittags von einer seiner Inspektionsfahrten zurückkam, sich an den Tisch setzte und der Familie in allen Einzelheiten von seinem Feldzug erzählte, ohne einen einzigen belanglosen, unbedeutenden und farblosen Zwischenfall auszulassen, hörte ich ihm dankbar zu; ich genoss Mr. Langdons gelassene Geduld, genoss die Mutlosigkeit und Verzweiflung der Familie; und mehr noch als alle diese Freuden zusammen genoss ich die aufflammende Rachlust in den Augen des jungen Charley, die vulkanischen Erschütterungen, die in ihm vorgingen und die ich zwar nicht sehen konnte, von denen ich aber wusste, dass sie sich vollzogen.
Nur aus Liebe verweile ich bei Atwater. Ich habe über Atwater nichts Wichtiges zu sagen – eigentlich nur eins. Und selbst diese eine Sache könnte ich unerwähnt lassen, wenn ich wollte – aber ich will nicht. Eine ganze Generationlang war es mir in angenehmer Erinnerung. Es wirft einen flüchtigen Lichtstrahl auf Livys sanftes, ruhiges und gelassenes Gemüt. Obwohl sie kraftvolle Empfindungen hatte und diese kraftvoll ausdrücken konnte, waren ausschließlich Menschen, die mit ihr und all ihren Stimmungen vertraut waren, in der Lage, an ihrer Sprache abzulesen, dass eine Äußerung harsch war. Der junge Charley hatte viele, viele Male versucht, den Samen der Lieblosigkeit gegen Atwater in Livys Herzen zu pflanzen, doch in ihrer Treue war sie unerschütterlich wie ihr Vater, und Charleys Bemühungen scheiterten jedes Mal. Viele, viele Male brachte er bei ihr Anklagen gegen Atwater vor, von denen er glaubte, sie würden das ersehnte bittere Wort aus ihr herauskitzeln, und endlich erzielte er einen Erfolg – denn »mit Geduld und Zeit kommt man weit«.
Ich war damals abwesend, und Charley konnte nicht etwa warten, bis ich zurück war. Dafür war er zu froh, zu begierig. Er setzte sich unverzüglich hin und schrieb mir, solange sein Triumph noch frisch war und sein Glück glühend und befriedigend. Er erzählte mir, wie er die ganze ärgerliche Angelegenheit vor Livy ausgebreitet und sie anschließend gefragt habe: »Was sagst du
dazu
?« Und sie sagte: »
Verdammter
Atwater.«
Charley wusste, dass er mir nichts zu erklären brauchte. Er wusste genau, dass ich es begriff. Er wusste, dass ich wusste, dass er nicht etwa zitierte,
Weitere Kostenlose Bücher