Meine geheime Autobiographie - Textedition
sondern
übersetzte.
Er wusste, dass ich wusste, dass seine Übersetzung akkurat war, dass sie einwandfrei war, dass sie Länge, Breite, Gewicht, Bedeutung und Wucht der Worte, die Livy tatsächlich benutzt hatte, präzise anzeigte. Er wusste, dass ich wusste, dass der Satz, den sie tatsächlich von sich gegeben hatte, folgender war: »Ich missbillige Atwater.«
Er hatte ganz recht. Aus ihrem Mund nahm sich das Wort »missbilligen« so verheerend, vernichtend und abscheulich aus wie ein »verdammt« aus dem Munde eines anderen.
Vor ein, zwei Tagen sprach ich über unseren betrüblichen und beklagenswerten Kurzaufenthalt in Buffalo, wo wir Einsiedler wurden und bis auf den jungen David Gray, seine junge Frau und ihren kleinen Sohn keinerlei menschliche Gesellschaft hatten. Es scheint schon
Ewigkeiten
her zu sein.Gestern Abend war ich in Uptown bei einer Soiree in Norman Hapgoods Palast, und man stellte mir einen hoch aufgeschossenen, schlanken Gentleman vor – einen Gentleman mit einem schönen, wachen und klugen Gesicht und einem kleidsamen Goldkneifer auf der Nase. Er steckte in einer Abendgarderobe, die ihm von der breiten Spanne der tadellosen Brust bis zu den mit Rosetten verzierten Slippern an den Füßen wie angegossen passte. Sein Gang, seine Verbeugung und seine Intonation waren die eines englischen Gentlemans, und ich hielt ihn für einen Earl. Ich sagte, ich hätte seinen Namen nicht recht verstanden, und fragte danach. Er sagte: »David Gray.« Die Wirkung seiner Worte war erstaunlich. Vor mir stand sein Vater, so wie ich ihn vor sechsunddreißig Jahren in Buffalo gekannt hatte. Diese Erscheinung rief mir angenehme Stunden mit David Gray und John Hay in den Bierstuben von Buffalo ins Gedächtnis, als der David Gray, der jetzt vor mir stand, noch in der Wiege lag, ein geliebter und strapazierender Besitz. Und während der nächsten Stunde hielt mich diese Verbindung in Buffalo fest und machte es mir schwer, mich in das Gespräch an meinem Ende der Tafel einzubringen. Der Text meiner Träumereien lautete: »Wozu ist er geboren? Wozu war sein Vater geboren? Wozu bin ich geboren? Wozu ist überhaupt jemand geboren?«
Sein Vater war Dichter, jedoch dazu verdammt, seinen Lebensunterhalt mit einer höchst unangenehmen Tätigkeit zu erkämpfen – der Herausgabe einer politischen Tageszeitung. Er war ein Singvogel in einer Menagerie von Affen, Aras und Hyänen. Sein Leben war vergeudet. Im Alter von fünf Jahren war er aus Schottland gekommen, bis auf die Knochen von einem Presbyterianismus der trübsinnigsten, unnachgiebigsten und reizlosesten Art durchtränkt. Mit dreiunddreißig, als ich Umgang mit ihm pflegte, war sein Presbyterianismus völlig verschwunden, und er war ein freimütiger Rationalist und entschiedener Ungläubiger geworden. Nach ein paar Jahren erreichte mich in Hartford die Nachricht, er habe einen Sonnenstich erlitten. Irgendwann traf die Meldung ein, sein Gehirn sei davon in Mitleidenschaft gezogen. Nach einer weiteren beträchtlichen Pause hörte ich von Ned House, der ihn besucht hatte, dass er keine Politik und keine Poesie mehr schreiben konnte, sehr zurückgezogen lebte, täglich jungen LeutenBibelunterricht erteilte und an nichts anderem mehr interessiert war. Sein Unglaube war von ihm gefallen; sein früher Presbyterianismus hatte seinen angestammten Platz wieder eingenommen.
Es stimmte. Einige Zeit später telegraphierte ich ihm und bat ihn, mich am Bahnhof zu treffen. Er kam, und ich unterhielt mich ein paar Minuten mit ihm – zum letzten Mal. Aus seinen tiefen Augen leuchtete derselbe liebliche Geist wie einst. Es war derselbe David, den ich früher gekannt hatte – bedeutend, schön und von untadeligem Charakter, ein anbetungswürdiges Geschöpf.
Nicht lange danach wurde er bei einem nächtlichen Eisenbahnunglück zerquetscht und verbrannt – und vermutlich dachte ich damals so wie jetzt an dieser Tafel, inmitten der Schwaden von fröhlichem Gelächter und Geplauder: »Wozu ist er geboren? Wozu war es gut?« Diese ermüdend gleichförmigen Wiederholungen des menschlichen Lebens – worin liegt ihr Wert? Susy stellte diese Frage, als sie ein kleines Kind war. Damals gab es niemanden, der sie beantworten konnte; heute gibt es niemanden.
Als Mr. Langdon am 6. August 1870 starb, fand ich mich plötzlich in einer ganz neuen Rolle wieder – der eines Geschäftsmannes, zumindest vorübergehend.
Freitag, 23. Februar 1906
Mr. Clemens erzählt, wie er Geschäftsmann wurde –
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