Meine geheime Autobiographie - Textedition
ich mich an die
Arbeit. Heute traf ein Brief seines Sohnes Jock ein, von dem ich seit vielen Jahren nichts gehört
hatte. Er ist seit längerem damit beschäftigt, die Briefe seines Vaters für eine Publikation zu
sammeln. Natürlich ließ diese Arbeit ihn mit einiger Regelmäßigkeit an mich denken, und ich schätze,
sein Geist telegraphierte mir seine Gedanken über den Atlantik hinweg. Ich stelle mir vor, dass uns
die meisten Gedanken mittels mentaler Telegraphie aus den Köpfen anderer zufliegen – nicht immer aus
den Köpfen von Bekannten, sondern zumeist aus denen von Fremden; weit entfernten Fremden – Chinesen,
Hindus und allen möglichen Fremdlingen vom Ende der Welt, deren Sprache wir nicht verstehen würden,
deren Gedanken wir jedoch mühelos lesen können.
7 GREENHILL
PLACE
EDINBURGH
8. März 1906
Sehr geehrter Mr. Clemens,
ich hoffe, Sie erinnern sich noch an mich, Jock, Sohn von Dr. John Brown. Nach
dem Tod meines Vaters übergab ich Dr. J. T. Brown sämtliche an meinen Vater adressierten Briefe, die
in meinem Besitz waren, da er, sein Cousin und lebenslanger Freund, dessen Biographie zu schreiben
gedachte. Er schrieb diese Erinnerungen auch wirklich, veröffentlicht wurden sie nach seinem Tod
1901, doch die Briefe selbst verwendete er nicht, und das Ganze war wenig mehr als eine kritische
Abhandlung über die Schriften meines Vaters. Falls es Sie interessiert, schicke ich sie Ihnen gerne
zu. Unter den Briefen, die ich 1902 zurückerhielt, befanden sich auch einige von Ihnen und Mrs.
Clemens. Inzwischen besitze ich eine große Anzahl Briefe, die mein Vater zwischen 1830 und 1882
schrieb, und beabsichtige, eine Auswahl zu publizieren, um der Öffentlichkeit eine Vorstellung von
dem Mann zu vermitteln, der er war. Ich denke, das werden sie bewirken. Miss E. T. MacLaren soll die
notwendigen Anmerkungen hinzufügen. Ich schreibe Ihnen, um anzufragen, ob Sie noch Briefe von ihm
besitzen und ob Sie mir gestatten, sie einzusehen und zu verwenden. Ich lege Ihnen Briefe von Ihnen
selbst und Mrs. Clemens bei, die ich gerne verwenden würde, fünfzehn Schreibmaschinenseiten. Obwohl
ich Ihnen anlässlich des Todes von Mrs. Clemens nicht geschrieben habe, wie ich es hätte tun sollen,
tat es mir doch sehr leid, als ich durch die Zeitungen davon erfuhr, und nun, da ich diese Briefe
lese, erscheint sie wieder vor mir, sanftmütig und liebenswert, wie ich sie kannte. Ich hoffe, Sie
erlauben mir, ihren Brief zu verwenden, er ist wunderschön. Ebenso hoffe ich, dass ich die Ihren
verwenden darf …
Ihr sehr ergebener
John Brown
Wir haben nach den Briefen von Doktor John gesucht, allerdings ohne
Erfolg. Ich verstehe es nicht. Eigentlich müssten es ziemlich viele sein, und keiner dürfte fehlen,
denn Mrs. Clemens hegte solche Liebe und Verehrung für Doktor John, dass seine Briefe in ihren Augen
Heiligtümer waren, die siegut verwahrte und auf die sie achtgab. In der Zeit
unserer zehnjährigen Abwesenheit, als wir in Europa waren, sind viele Briefe und ähnliche
Erinnerungsstücke in alle Winde zerstreut worden und verlorengegangen, aber ich halte es für
unwahrscheinlich, dass dieses Schicksal Doktor Johns Briefe ereilt hat. Ich denke, wir werden sie
noch finden.
Die Gedanken an Jock
versetzten mich in das Edinburgh vor dreiunddreißig Jahren, und der Gedanke an Edinburgh ruft mir
eines der Abenteuer von Reverend Joe Twichell in Erinnerung. Vor einem Vierteljahrhundert besuchten
Twichell und seine Frau Harmony zum ersten Mal Europa und verbrachten ein, zwei Tage in Edinburgh.
Sie waren Anhänger von Scott und nutzten diese ein, zwei Tage, um in Edinburgh nach Dingen und Orten
zu fahnden, die durch den Kontakt mit dem Magier des Nordens geheiligt worden waren. In der zweiten
Nacht waren sie gegen Mitternacht zu Fuß auf dem Weg zurück in ihre Unterkunft; es fiel ein
trostloser, steter Regen, so dass sie die George Street ganz für sich hatten. Als der Regen heftiger
wurde, suchten sie Schutz in einem tiefen Hauseingang, und in dessen schwarzer Dunkelheit erörterten
sie voller Genugtuung die Erfolge des Tages. Dann sagte Joe:
»Es war harte Arbeit und eine erhebliche Kraftanstrengung, aber wir
haben unsere Belohnung. In ganz Edinburgh gibt es nichts, was mit Scott in Verbindung steht, das wir
nicht gesehen oder berührt hätten – nichts. Ich meine Dinge, zu denen ein Fremder Zugang haben
kann
. Es gibt nur
eine
Sache, die wir nicht gesehen haben, aber die ist nun einmal
nicht zugänglich –
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