Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde
Grandma. Es ist kalt hier draußen.«
»Ich habe diese Holliday schon früher gesehen. Der kann man nicht über den Weg trauen.« Weenies Augen funkelten wissend unter dem Gartenstuhl.
Ich hatte eine Gänsehaut und zog die Arme an meine Brust. »Geh ins Bett, Grandma!«, schrie ich. Meine Stimme überschlug sich. Ich drehte mich um und rannte ins Haus. Verrücktes Mädchen, sieht Gespenster.
An einem Sonntag, ich war ungefähr fünf Jahre alt, bin ich mal allein zu den Bahnschienen runtergegangen, um mir die Züge anzuschauen. Das war lange, bevor ich die Fahrpläne auswendig kannte und auch wusste, dass sonntags überhaupt keine Züge hier vorbeikommen. Ich wartete und wartete, doch nichts geschah. Also legte ich mich ins hohe Gras und machte ein langes Nachmittagsschläfchen. Irgendwann wurde ich von einer sanften Brise geweckt und setzte mich auf. Ich starrte gebannt in die Ferne, zum Fuße der Berge.
Durch das rötliche Laub der Wälder schimmerte die Gestalt eines Drachen. Ich sah ihn gut genug, um zu verstehen, dass er mich zu sich locken wollte. Ich stand auf und ging ihm entgegen, doch im nächsten Moment zwinkerte er mir zu, bevor er gemächlich verschwand. Ich ließ mich ins hohe Gras zurücksinken, blieb dort lange Zeit liegen und musste immerzu daran denken, was ich gesehen hatte.
Als ich spätabends nach Hause kam, waren Mama und Daddy außer sich über mein Verschwinden. Mama umarmte mich und wollte mich gar nicht mehr loslassen, und alles, was ich herausbekam,
war, dass ich am Fuße der Berge einen Drachen gesehen hatte.
»Verrücktes Mädchen, sieht Gespenster«, wiederholte Grandma. Daddy blickte hilflos zu Boden.
Mama erklärte mir, ich hätte eine Luftspiegelung gesehen. Mein Glück, an einem dämlichen Ort geboren zu sein, wo es Luftspiegelungen gibt, mit denen sich zur Not alles erklären lässt.
»Nein«, widersprach ich. »Es war ein Drache.«
»Glaub mir, das sind Luftspiegelungen, mein Schatz, Traumbilder, die uns etwas vorgaukeln. Drachen gibt es nur im Märchen.«
»Er wollte, dass ich zu ihm komme«, sagte ich. Und ich wäre wirklich gegangen. Ich wäre zu ihm gegangen.
Mama sagt, ich hätte damals zwei Tage lang ununterbrochen geheult, wie damals, als ich noch ein Baby war. Meine Welt begann zu verschwimmen, wie ein alter Film, der langsam schwarz wird und am Ende nicht mehr als ein kleiner, trauriger Lichtpunkt ist. Ich wollte Mama nicht glauben, obwohl ich wusste, dass sie mich niemals anlügen würde. Und ich konnte mir nicht vorstellen, in einer Welt leben zu wollen, in der es keine Drachen gibt.
Fünftes Kapitel
W ie Bug vorhergesagt hatte, nahm Biswick den kleinen Bus für die zurückgebliebenen Kinder nach Whiskey. Er kam am frühen Morgen, sein zu kleiner Motor brummte durch die sanfte elfenbeinfarbene Stille. Oft stellte ich mir vor, wie er in den Kleinbus einstieg und zu der Schule gebracht wurde, in der alle anders sind. Grandma Birdy sagt, an jedem Baum hänge ein fauler Apfel. Sie meint damit, dass es in jeder Stadt einen Behinderten gibt. Dabei wirft sie mir einen Blick zu, weil sie weiß, dass ich es in Jumbo bin, der diese undankbare Rolle zufällt. Während ich so dalag und die geisterhafte Reihe meiner PEZ-Boxen betrachtete, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als aus dem Haus zu laufen, zusammen mit Biswick in den Bus zu steigen und dorthin zu fahren, wo ich mich auf derselben Seite der Normalität befinden würde wie er.
An diesem Morgen, einem Montag, saß ich kurz vor Unterrichtsbeginn auf meinem Platz und zeichnete einen eleganten mittelalterlichen Drachen in mein Notizbuch, dessen langer gewundener Schwanz sich über mehrere Seiten erstreckte. Hier auf der Jumbo Highschool (die alle zwölf Jahrgangsstufen umfasst) gibt es nur wenig für mich zu tun, weil ich sämtliche Lehrbücher, einschließlich die der zwölften Klasse, schon durchgearbeitet habe.
Auch Gideon Beaurogard, der nur »Schwarte« genannt wurde, als er noch ein kleiner dicker Junge war, beschäftigte
sich mit irgendwelchen Dingen auf seinem Schreibtisch. Die anderen Kinder tobten durch das Klassenzimmer wie wilde Tiere. Mr Bonaparte (genannt: »Das Stinktier«, weil er die Angewohnheit hatte, die Luft zu verpesten) saß vermutlich Kaffee trinkend im Lehrerzimmer, bohrte in der Nase und löste das Kreuzworträtsel des heutigen Tages. Ich bin nicht gerade seine Lieblingsschülerin, weil ich die ganze Zeit vor mich hin träume. Meist muss er »Kommen Sie zurück aus Drachenland, Miss
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