Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde
Augen ruiniert hatte. Auch sein Arm war nicht wirklich gebrochen gewesen, als er damals im Kindergarten sechs Monate lang einen Gipsverband trug, der ihm von den Fingern bis zur Schulter reichte.
Die Behörden gelangten schließlich zu der Überzeugung, dass Gideons Mutter immer noch besser sei als gar keine Mutter. Außerdem gab es ja noch Gideons Großmutter, die alte Frau Finkle, die im Haus geblieben war, nachdem ihr verkommener Sohn sich aus dem Staub gemacht hatte. Als Gideon zu seiner Mutter und Großmutter zurückkehrte, war er nicht wiederzuerkennen. Er sah wie ein ganz normaler kleiner Junge aus, sozusagen eine Miniaturausgabe seines früheren Ichs.
Ich schaute wieder in mein Notizbuch. Auch mein Seeungeheuer trug inzwischen eine Brille. Ich lächelte ein bisschen beim Vergleich der beiden »Brillenschlangen« in meiner Nähe. Doch bevor ich etwas sagen konnte, stand Gideon mit seinem Tablett auf und stapfte davon. Im selben Moment erschien Romey hinter mir.
»Wow, der sieht wirklich genauso aus wie er«, sagte sie freundlich. Ich war überrascht. Keiner meiner Quälgeister hat sich je für mein Notizbuch interessiert. Ich klappte es zu und hob rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, dass auch Cairo und Scooter zwei Tische in meiner Nähe in Beschlag genommen hatten. Ich drückte das Notizbuch vorsichtshalber gegen meine Brust, doch es war zu spät. Romey schnappte es sich mit einer raschen Handbewegung und warf es zu Cairo hinüber, die es umgehend zu Scooter weiterbeförderte - wie einen flachen Stein, der über das Wasser hüpft.
Sechstes Kapitel
G randma meint, man solle sich im Leben nicht an irgendwelche Gegenstände klammern. Das erspare einem Kummer, wenn Gott sie einem wieder wegnimmt. Sie hat mein Notizbuch sowieso nie gemocht. Ist doch alles nur Gekritzel (keine einzige richtige Geschichte), hat sie erklärt, als sie mir einmal über die Schulter schaute, und wenn ich nicht aufpasse, wäre es genauso schnell wieder verschwunden wie Minnie Deans Perlen. Als Minnie Dean ein Teenager war, hat sie mal einen Ausflug nach Port Aransas unternommen, um ihre echten »Lauren Bacall-Zuchtperlen« vorzuführen, die sie bei einem Hollywood-Preisausschreiben gewonnen hatte. Doch wurden sie ihr im seichten Wasser von einer überraschenden Welle fortgerissen und waren auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Jetzt zieren diese todschicken Perlen also den Hals irgendeines Kugelfischs auf dem Meeresgrund. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, sagt Grandma.
Es stimmt, dass ich noch nie eine richtige Geschichte in mein Notizbuch geschrieben habe - noch nicht. Bisher habe ich nur Ausschnitte, Fragmente und vor allem Anfänge gesammelt. Doch sie bedeuten mir viel, diese Anfänge. Irgendwann werde ich mich hinsetzen und die Geschichten zu Ende schreiben. Fürs Erste befinden sie sich in meinem Kopf und sind so eng miteinander verflochten, dass ich daran zweifle, sie je ganz voneinander trennen zu können. Aber was spielt das schon für eine Rolle? Mein Notizbuch war ja schließlich weg.
Den ganzen Vormittag hindurch grinsten meine Quälgeister sich an und tauschten vielsagende Blicke, aber von meinem Notizbuch fehlte jede Spur. Nach der Schule habe ich dann nach ihnen Ausschau gehalten, doch waren sie bereits in verschiedene Richtungen auseinandergelaufen, und ich war nicht in der Lage, irgendjemandem von ihnen zu folgen. Mein Notizbuch war futsch. Für immer.
»Was ist los?«, fragte Biswick an der Kreuzung von Maple und Fifth Street, unserem üblichen Treffpunkt.
»Sie haben es weggenommen«, antwortete ich, während ich meinen Blick in der stummen Hoffnung umherwandern ließ, mein Notizbuch vielleicht einfach auf dem Bürgersteig wiederzufinden. »Außerordentlich. Unverständlich.« Ich kämpfte mit meinen Tränen. Ich stellte mir Scooters Gesicht wie das eines Ochsen vor, während er prustend mein hübsches schwarzes Notizbuch zerfledderte und daraus vorlas: »Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade daraus.« Hahaha.
Biswick schaute in meinen leeren Fahrradkorb. »Dein Notizbuch?«, sagte er.
»Genau«, entgegnete ich. »Steig auf!« Es war Zeit für meine Müllrunde.
Er sprang hinten auf. »Willst du es niemandem erzählen?«
»Es ist weg«, sagte ich.
Später begleitete mich Biswick zum Essen nach Hause, während er mir fröhlich erzählte, dass es bei ihnen mal wieder Fischstäbchen gäbe, die er nicht möge. Als wir an Grandmas Haus vorbeikamen, öffnete sie die Tür und schrie:
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