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Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde

Titel: Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Crowley Knut Krueger
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Sehnsucht. Ich brauchte es. Ich brauchte dieses Notizbuch, und zwar bevor es zu regnen anfing und all meine Anfänge unleserlich wurden.
    Mama zog ihre Clogs aus. Sie trat näher an den Stamm heran und drehte ihren Kopf hin und her, um den Verlauf der Äste zu studieren. Es war unmöglich. Keine Chance. Man konnte in diesem Baum nicht herumklettern. Bug und ich hatten es vor ein paar Jahren mal ausprobiert. Irgendwie waren die Äste nie an der richtigen Stelle, um Händen und Füßen Halt zu bieten. Es schien fast so, als hätte Grandma gewollt, dass er so wächst.
    Ich warf einen Blick über die Straße, als ein paar Regentropfen provozierend auf meinem Kopf landeten. Marva Augustines Rotzlöffel, drei barfüßige Jungs, die alle unter sechs und jeweils nur ein Jahr auseinander waren, standen dort, hielten sich an den Händen und beobachteten das Spektakel. Bald würde sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer verbreiten, denn Mary Alice, ihre große Schwester, war die größte Plaudertasche der ganzen Stadt.
    »Mama klettert den Baum rauf!«, kreischte Bug.
    »Geh zu Grandma und sag ihr, dass du einen riesigen Limonadefleck auf dem Bettlaken hast«, sagte Mama zu Bug. Grandmas
größtes Hobby auf dieser Welt ist die Bekämpfung von Flecken. »Das Werk des Teufels beseitigen«, nennt sie es. Sie schleicht sich einfach zu dir herein, wenn du nicht zu Hause bist, und später entdeckst du jede Menge Bleichflecken, als hätte ein Geist seine Spuren hinterlassen. »Geh, beeil dich!«, sagte Mama. Bug lief also zu Grandmas Haus und nur zwanzig Sekunden später marschierte Grandma mit einem Kopftuch aus der Tür. In der Hand hielt sie einen Eimer sowie eine Flasche mit Bleichmittel. Bug trottete mit verschwörerischem Grinsen hinter ihr her.
    Sobald die beiden in unserem Haus verschwunden waren, drehte sich Mama zu Veraleen um und sagte: »Mach mir eine Räuberleiter.«
    »Bist du sicher?« Veraleen lachte leise vor sich hin, während sie ihre Hände verschränkte. »Knochenbrüche nach einem Sturz gehören zu den kompliziertesten Verletzungen.« Mama biss entschlossen die Zähne zusammen, setzte einen Fuß in Veraleens offene Handflächen und ließ sich nach oben stemmen.
    Biswick brach in schallendes Gelächter aus. Auf der Straße waren ungefähr zehn Kinder zusammengelaufen, mit ein paar Autos und Fahrrädern im Schlepptau. Sie starrten Mama fasziniert an und zeigten mit dem Finger auf sie. Mama kletterte wie ein Affe von Ast zu Ast, während ihr weiter Rock sie umflatterte. Für sie war das die reinste Gymnastik. In der Church of the Devine Mercy hatte sie mal die einzige Yogagruppe weit und breit gegründet, der außer ihr noch zwei Mexikanerinnen angehörten, die zwar kein Englisch sprachen, aber viel von Körperhaltung verstanden.
    Dooley Augustine, eines der Straßenkinder, hatte sich zu uns gesellt, um sich ein genaueres Bild zu verschaffen.
    »Man sieht ihre Unterhose!«, gab er bekannt.
    »Sie ist lila!«, rief er noch lauter, während er die Hände zu
einem Trichter formte. Er hatte recht. Außerdem war sie mit Spitzen besetzt. Ich wurde knallrot und blickte wieder nach oben. Der Niederschlag hatte seinen Charakter verändert und war zu einem sanften Sprühregen geworden. Mama. Niemand sonst in Jumbo hätte es gewagt, auf Grandmas Baum zu klettern.
    »Willst du auch, Schatz?«, fragte Veraleen. Ich schaute zu Mama empor. Sie hatte nun fast die Baumkrone erreicht, wo die Äste nur noch sehr dünn sind. Ich nickte. Veraleen verschränkte ihre Handflächen und im nächsten Moment wurde ich in die Höhe gehoben.
    »Das Drachenmädchen klettert auch rauf!«, wurden die Schaulustigen von Dooley informiert.
    »Ich will auch«, sagte Biswick unter mir, doch Veraleen machte nur »Pst!«.
    Ich schaffte es etwa bis zur Hälfte des Baumes, dann hielt ich inne und rang nach Luft. Ich schaute nach oben. Mama streckte ihren Arm nach dem Notizbuch aus, konnte es aber nicht erreichen. Sie lehnte sich zurück und atmete ebenfalls ein paar Mal tief durch.
    »Sie ist fast runtergefallen!«, meldete der kleine Junge.
    »Geht nach Hause, ihr Wichtigtuer!«, entgegnete Biswick.
    »Was willst du denn, Pfannkuchen?«, spottete Dooley. »Au! Jemand hat mich gekniffen!«
    Veraleen schaute belustigt dem Jungen nach, der quer über die Straße lief und sich den Ellbogen hielt. Inzwischen war unten eine ansehnliche Menge, darunter einige Erwachsene, zusammengekommen. Auch Mamas Hunde waren aus dem Haus gelaufen und tänzelten winselnd um den

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