Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde
»Ich glaube, weil einer mal zu mir kam, als ich noch klein war«,
antwortete ich. Meine Augen begannen zu brennen. »Verwunderlich.«
»Also glaubst du doch an etwas«, stellte sie fest. »Du glaubst an Drachen, Merilee.«
Ich zögerte, dachte an meine unzähligen Träume, bevor ich etwas entgegnete. »Nein, es gibt keine richtigen Drachen. Nicht hier.« Ich wusste nicht, ob das, was ich sagte, der Wahrheit entsprach, doch die Worte taten mir weh. Ich machte mich davon und war böse, dass Veraleen sie mir entlockt hatte.
Als ich an jenem Abend nach Hause kam, marschierte ich schnurstracks in mein Zimmer. Wie ein wütender Elefant stampfte ich die Treppe hinauf, damit Veraleen sofort klar wurde, dass ich keinesfalls vorhatte, zu ihrem Essen zu erscheinen. So köstlich es auch sein mochte, ich legte nicht den geringsten Wert darauf, mit den anderen am Tisch zu sitzen, mir von Biswick und Bug die Ohren vollsülzen zu lassen und von Veraleens durchdringenden Augen angestarrt zu werden.
Ich ließ mich auf mein Bett fallen. Warum nur war Onkel Dal vom Zug abgesprungen? Hatte er das zum ersten Mal gemacht oder habe ich es nur zum ersten Mal gesehen? Ich wusste es nicht.
Es war alles Biswicks Schuld. Der hat alles aufgerührt und mein SGD auf den Kopf gestellt. Ich stützte mich auf einen Ellbogen und begann, einen grimmigen gehörnten Drachen in mein Notizbuch zu malen.
Es klopfte an der Tür. Oh Gott, bitte keine weiteren Predigten von Veraleen, ich müsse mich um den armen, kleinen Biswick kümmern. Ich warf mein Notizbuch beiseite, drehte mich um und starrte die Wand an.
»Herein!«, sagte ich.
Als die Tür sich öffnete, spähte ich über meine Schulter. Es
war Daddy. Ich setzte mich auf. In einer Hand hielt er einen Teller mit Veraleens Essen, in der anderen ein Glas Milch.
»Veraleen meinte, du würdest wohl nicht runterkommen.« Er streckte mir den Teller entgegen und ich nahm ihn entgegen. Er stellte das Glas auf meinen Nachttisch und setzte sich auf die Bettkante.
Mit den Fingern strich er sich durch seine pechschwarzen Haare und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, ohne etwas Bestimmtes anzuschauen. Daddy sieht aus wie ein Filmstar vergangener Zeiten, wie eine Mischung aus Errol Flynn und Tyrone Power, deren Filme man sich auf Kanal 39 angucken kann. Grandma Birdy erzählt, dass sich früher alle Mädchen in der Kirche nach ihm umgedreht hätten (manche waren extra aus Whiskey gekommen). Während der gesamten Predigt hätten sie ihre Ellbogen auf die Kirchenbank gestützt und ihn angeglotzt. Mama sagt, es seien seine grünen Augen gewesen, in die sie sich zuerst verliebt hätte. Als er sie das erste Mal angeschaut habe, hätte sie in ihnen das Meer gesehen. Und in diesen Meeresaugen habe sie die Seele eines guten Menschen erkannt.
»Mir geht’s gut, Daddy«, murmelte ich.
Man sah ihm seine Erleichterung an. Er zauste mir liebevoll das Haar - in Wahrheit eine ziemlich schroffe Geste, genau wie die von Onkel Dal - und ging zur Tür.
Ich nahm einen Bissen von Veraleens Hühnchen-Mais-Auflauf und sah zu, wie er leise die Tür schloss. Grandma sagt, Männer machen sich immer dann aus dem Staub, wenn’s Probleme gibt, und auf Daddy trifft das absolut zu. Doch manchmal versucht er, mit mir zu reden, und dann fühlt es sich so an, als würden sanfte Regentropfen auf einer verdorrten Ebene landen. Es war Daddy, der mir als Erster die Irrlichter gezeigt hatte.
Er weckte mich mitten in der Nacht, wenn es hier in dieser
Gegend so dunkel und klar ist, dass man glaubt, die Sterne vom Himmel pflücken zu können. Er nahm mich mit zum Aussichtspunkt nahe des Highways, der von einem Hinweisschild markiert wird. Noch halb im Schlaf, streckte ich die Arme aus und versuchte, mir einen eigenen Stern zu angeln. Da setzte Daddy mich auf einen großen, kalten Stein. Er legte mir eine warme Decke um die Schultern und sprach kein einziges Wort. Doch seine innere Ruhe und seine Hoffnung teilten sich mir fast körperlich mit.
Und dann sah ich ihn. Es war kein Stern, sondern ein Lichtstreif, der in der Ferne über dem Horizont schwebte. Bald erschien ein weiteres Licht, das uns zuzwinkerte, sich rosa verfärbte, dann gelb und weiß und schließlich wieder rosa wurde. Die Lichter vervielfachten sich, schossen in den Himmel und blinkten ein letztes Mal, ehe sie in der dunklen Nacht verschwanden. Ich habe keine Erinnerung daran, wie wir nach Hause fuhren und ich ins Bett gebracht wurde.
Am nächsten Morgen sagte
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