Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde
Meine Hände griffen nach meinem Fernglas, doch ich hielt es mir nicht vor die Augen. Biswick leckte immer noch an seinem Arm. Er hatte nichts bemerkt. Dem Dilly Bar sei Dank.
»Komm, Biswick«, sagte ich. »Iss dein Eis auf. Wir müssen arbeiten.« Ich sah, wie Onkel Dal immer kleiner wurde und schließlich zwischen den Mesquite-Bäumen verschwand.
Ich ging zu meinem Fahrrad hinüber und holte den Müllspieß. Ich spießte einen Papierbecher auf und dachte an Onkel Dal. Ich schüttelte den Kopf. Es ging mich sowieso nichts an.
»Kriegen wir eigentlich Geld dafür?«, fragte Biswick, als er mir die Aufreißlasche einer Getränkedose brachte.
»Nein, wir machen das, um die Erde zu retten.«
»Was ist mit der Erde?«, fragte er. »Werden wir alle sterben? Daddy sagt, das Leben ist beschissen und irgendwann stirbt man.«
»Poetisch. Sehr poetisch«, entgegnete ich. »Ich versuche, etwas Gutes zu tun und so viel Müll aufzusammeln wie möglich.« Biswick irritierte mich zunehmend.
»Wozu soll das gut sein?«, fragte er, während er die Aufreißlasche in die Höhe hielt, die - zugegeben! - in Anbetracht des endlosen Horizonts winzig und unbedeutend wirkte. »Warum versuchst du nicht lieber, traurige Leute glücklich zu machen?«, wollte er wissen.
»Irrtümlich. Außerordentlich«, sagte ich, indem ich mehrere kleine Müllstücke mit größter Entschiedenheit aufspießte. »Ich bin keine Menschenfreundin, Biswick.« Und ich musste innerlich lachen, wenn ich daran dachte, wie das Urteil »mangelndes Sozialverhalten« in meinen Schulzeugnissen mich mein Leben lang begleitete. »Warum machst du nicht traurige Leute glücklich?« Ich hielt inne und sah ihn an.
Ich wette, dass er daran ganz schön zu kauen hatte. »Warum hat Onkel Dal keine Familie?«, fragte er.
Ich stieß einen übertrieben lauten Seufzer aus und stützte mich auf meinen Müllspieß. »Er hat eine Familie. Er hat mich, Bug, Mama, Daddy … und Grandma.«
»Aber warum hat er keine Frau und keine Kinder?«, hakte er nach.
»Ich weiß nicht, Biswick«, entgegnete ich. »Manche Leute wollen eben keine Kinder. Und das ist auch gut so.« Grandma Birdy war unfruchtbar bis zu ihrem fünfzehnten Hochzeitstag, bevor sie innerhalb von anderthalb Jahren zwei Jungen zur Welt brachte. Sie sagt, es sei ein echtes Wunder gewesen, und Gott habe nur ihre Geduld auf die Probe stellen wollen. Ich denke, Daddy und Dal haben für ihr Erscheinen auf dieser Welt bloß den richtigen Augenblick abgewartet.
Biswick pustete sich die Haare aus der Stirn und biss sich auf die Lippen. Zum ersten Mal fielen mir seine Wimpern auf, die lang, schwarz und wunderschön waren - eine singuläre Vollkommenheit in einem unvollkommenen Gesicht. Eine Träne lief ihm über die Wange. Er schlug nach ihr, als wäre sie eine Fliege.
Jetzt weinte er. Verwunderlich.
Ich hielt mir das Fernglas vor die Augen und blickte in den Himmel, um den Flug eines großen Vogels zu beobachten. Es war aber nicht Weißfeder.
Biswick holte die Serviette aus meinem Korb und packte
den Cheeto aus. Er betrachtete ihn, führte ihn sanft an seine Lippen, packte ihn wieder ein und steckte ihn sich in die Tasche. »Können wir jetzt zu Veraleen gehen?«, fragte er. Ich schaute ihn durch mein Fernglas an; seine Lippen waren von der Berührung mit dem Cheeto ein wenig orange geworden. Wir stiegen auf mein Fahrrad, Biswick hockte sich auf die hinteren Körbe, und machten uns auf den Weg.
Achtes Kapitel
Z u aller Überraschung war Veraleen in ein winziges Lehmziegelhaus an der Pecos Street gezogen, das nur drei Zimmer hatte und auf der mexikanischen Seite der Stadt, südlich der Bahnschienen, lag. Zwar überraschte es niemanden, dass sie dort eingezogen war, doch hatte sich für die baufällige Bruchbude, die für eintausend Dollar zum Verkauf stand, seit fünf Jahren absolut kein Käufer gefunden. Früher hatte dort eine arme sechsköpfige Familie gehaust, aber die Kinder waren inzwischen erwachsen und die Eltern woanders hingezogen. Für Veraleen war das Haus jedoch anscheinend gut genug.
Biswick und ich fanden sie auf den Knien vor, während sie versuchte, die harte Erde zu bepflanzen, die so aussah, als wäre nie etwas Lebendiges in ihr gediehen. Veraleen trug einen großen, breitkrempigen Hut, an dessen Schärpe sich eine kleine Schaufel und eine Spitzhacke überkreuzten. Es war ein seltsamer Anblick - als würde ein Nashorn einen Sombrero tragen. In ihrer Gesäßtasche zeichneten sich die Umrisse einer
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