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Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde

Titel: Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Crowley Knut Krueger
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meine drei Quälgeister, die alle ihren Nagellack vor sich auf dem Tisch stehen hatten. Scooter beugte sich vor und schien all seine Aufmerksamkeit auf Gideon zu richten. Schließlich hob dieser die Stimme: »Die Fotografie ist ein spirituelles Medium, ein Wechselspiel des Sichtbaren und Unsichtbaren, das die reine Schönheit der Natur einfängt und für immer bewahrt.« Jemand nieste. Gideon schob blinzelnd seine Brille nach oben, und ich stellte fest, dass er ohne seine dicken Gläser eigentlich gar nicht so übel aussah. Möglicherweise. Jemand hustete. »Vollidiot.« Leises Kichern. Mr Bonaparte bat um Ruhe. Gideon fuhr fort: »Das erste Foto wurde im Jahr
1826 von Nicéphore Nièpce aufgenommen, einem Franzosen, der lithografische Experimente anstellte. Es zeigt den Blick aus seinem Arbeitszimmer.« Jemand gab ein schnarchendes Geräusch von sich. Irgendwer ließ einen fahren. »Lasst Gideon sein Referat in Ruhe zu Ende bringen«, mahnte Mr Bonaparte. Während sich Gideon eingehend über die Geschichte der Fotografie ausließ, waren seltsamerweise keine Buhrufe mehr zu hören und auch keine Pfiffe. Mit breitem Lächeln nahm er wieder Platz.
    Ich war als Nächste dran. In diesem Moment wäre ich doch lieber zu Hause gewesen, um mir Grandmas Untergangsvisionen anzuhören. Ich kämpfte um mein Gleichgewicht, indem ich mich kurz an jedem Tisch festhielt, während ich nach vorne wankte. Wie eine Ente auf dem Weg zur Exekution. Keine Pfiffe. Weder Niesen noch Husten. Gar nichts. Es war totenstill.
    Ich stand hinter dem Rednerpult und räusperte mich. Mr Bonaparte war wieder eingeschlafen. Man hörte ihn schnarchen. Eine gute Note war mir jedenfalls sicher. Ich schniefte. Vielleicht würde auch alles gar nicht so schlimm werden, selbst wenn ich mich ein bisschen verhaspelte. Ich hörte, wie Romey zu Cairo sagte: »Lass mich raten: Drachen!« Beide lachten.
    Der Raum begann, ein wenig zu schwanken. Ich griff mit beiden Händen um das Pult und machte zwei FF-Atemzüge. Ich blickte verstohlen zur Scheibe hinüber, an der immer noch ein paar Frösche klebten, die um ihr Leben kämpften. Ihre Glupschaugen starrten mich durchdringend an. Sie nehmen Maß für dein Totenhemd. In Gedanken sah ich, wie meine verletzte Mama die Arme nach mir ausstreckte. »Schauerlich.«
    »Merilee?« Das war Gideon. Ich blinzelte und signalisierte ihm mit einem Nicken, dass alles okay war. Vereinzeltes Kichern. Mr Bonaparte öffnete kurz die Augen und schloss sie sogleich wieder.

    Ich begann: »Nichts auf der Welt lässt sich mit Drachen vergleichen...« Es herrschte eine unheimliche Stille. Kein Husten. Keine Zwischenrufe. Gar nichts. Ich räusperte mich: »Doch hat jede Kultur in der Menschheitsgeschichte ihre eigene Vorstellung von ihnen entwickelt … mal kommen sie anmutig und sanftmütig daher... dann wieder grausam und wild … mal als Monster mit fürchterlichen Fangzähnen … mal als geschmeidige schlangengleiche Wesen... wie in vielen Mythen und Legenden...« Wow. Ich konnte kaum glauben, dass ich es bis hierhin geschafft hatte, obwohl ich immer wieder innehalten und ein paar FF-Atemzüge machen musste. Ich fuhr fort:
    »Warum ist das so? Warum findet man sie … seit Tausenden von Jahren … in den unterschiedlichsten Überlieferungen? In den Höhlenzeichnungen unserer Vorfahren ebenso … wie in den Hieroglyphen der alten Ägypter.« Ich brach erneut ab und machte einen weiteren FF-Atemzug. Ich wartete auf etwas. Auf irgendeine Reaktion meiner Quälgeister. Gideon nickte mir aufmunternd zu.
    »Manche Wissenschaftler sind der Ansicht... dass wir eine Vorstellung von ihnen in uns bewahrt haben. Vielleicht … sind frühe Formen der Menschheit … noch mit großen Raubvögeln in Kontakt gekommen. Andere Wissenschaftler glauben … dass sich in Drachen unsere frühesten Ängste manifestieren … vor Raubkatzen, Reptilien und Greifvögeln. Ein Teil dieser Ängste … ist ins kollektive Bewusstsein der Menschheit eingegangen.« Tiefer FF-Atemzug.
    Ich nahm Gideons intensiven Blick wahr. Er lächelte. »Man kennt viele Arten von Drachen. Die früheste Form eines Drachen ist der Oroboros, die sich in den Schwanz beißende Kreisschlange... als Symbol von Leben und Tod... die ewige Wiederkehr... Schöpfung aus der Zerstörung... oh, schauerlich.« Ich schielte zu den erstarrten Fröschen an der Scheibe.
FF-Atemzüge. In diesem Moment hörte ich ein leises klingelndes Geräusch. Etwas rollte über den Boden und ich musste an das Geklingel

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