Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde
hatte er getippt. Ich trat einen Schritt nach vorne, um es lesen zu können. Der Dichter streckte den Arm aus, um mich aufzuhalten, doch hatte ich es schon entziffert: June . Rasch machte ich einen großen Schritt zurück.
Biswick lief in die Küche und kam mit einer Dose Cola Light zurück. »Hier, Daddy«, sagte er, indem er sie auf den Tisch stellte.
»Sag ihr, sie soll verschwinden.«
»Aber Daddy. Merilee schreibt auch. Sie hat ein eigenes Notizbuch.«
»Schön für sie.« Er lachte. »Schön für sie.«
»Mr O’Connor …«, begann ich, während ich meinen Blick durch den chaotischen, stinkenden Raum schweifen ließ. Ich musste durch die Nase atmen. FF-Atemzüge.
»Hol mir ein Bier, Biswick«, sagte er. Biswick eilte in die Küche.
»Was schreibst du?«, fragte der Dichter.
Ich begriff, dass er mich meinte. »Äh … einfach Geschichten, Fragmente, lustige Sachen... außerordentlich.«
»Ich wollte Dichter werden«, sagte er.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Ihr Buch ist bei uns schon ausverkauft«, fiel mir ein, »alle dreißig Exemplare. Mama wird welche nachbestellen.«
Er reagierte nicht darauf. Ich betrachtete den Müll auf dem Fußboden. »Soll ich Ihnen vielleicht helfen?« Ich hatte wieder zu zittern begonnen und machte einen weiteren FF-Atemzug. Dann noch einen.
»Niemand kann mir helfen«, entgegnete er.
»Ich meine, beim Aufräumen. Vielleicht würde das … Ihren
Kopf frei machen.« Am liebsten hätte ich sofort meinen Müllspieß und meinen Sack geholt.
»Der ist schon frei. Völlig leer. Das ist das Problem.« Biswick kam mit dem Bier zurück. Er hatte die Flasche schon geöffnet und streckte sie seinem Vater entgegen. Der signalisierte mit einem Kopfnicken, dass er sie auf den Schreibtisch stellen sollte.
»Du solltest jetzt gehen, Merilee«, sagte der Dichter.
Merilee. Als er meinen Namen aussprach, klang er schon viel netter.
Ich wollte Biswick nicht allein lassen, aber ich wusste ja, dass ich ihn später zum Essen bei uns sehen würde. Er begleitete mich zur Tür. »Was bedeutet June ?«, fragte ich.
Er beobachtete einen Frosch, der um meine Füße herumsprang. »Das ist meine Mommy.« Dann drehte er sich wortlos um und ging ins Haus.
Als ich mich auf den Heimweg machte, konnte ich die Bilder von Ola Porters weggeworfenem Schaukelstuhl und dem zertrümmerten Hochzeitsklavier nicht aus dem Kopf bekommen. Ich überlegte, ob ich jemandem davon erzählen sollte, doch dann erinnerte ich mich an Gideon, den man für lange Zeit in eine Pflegefamilie gegeben hatte. Ich radelte in Richtung Süden, den Eisenbahnschienen entgegen.
In der Nacht verschwanden sämtliche Frösche, als hätte es sie nie gegeben, und am nächsten Nachmittag fuhr Daddy nach El Paso, um Mama abzuholen. Ich beobachtete von meinem Fenster aus, wie er ihr aus dem Wagen half. Bug rannte nach draußen. Ich hörte Mamas sanftes Lachen. Ihr Verband war jetzt etwas schmaler, nur ein kleiner Streifen über dem linken Auge. Sie sah gut aus. Sie war wieder zu Hause.
Sechzehntes Kapitel
M an sagt, Drachen seien gute Hüter von Geheimnissen. Wer würde es wagen, einem Drachen ein Geheimnis entlocken zu wollen? Der heilige Georg vielleicht. Sonst niemand. Und ich bin die Geheimnishüterin von Jumbo. Ich bewahre die Dinge, von denen niemand etwas wissen will. Doch eigentlich will auch ich nichts von ihnen wissen. Die Leute vertrauen mir ihre Geheimnisse an, weil sie wissen, dass sie bei mir gut aufgehoben sind. Am Anfang waren es nur kleine, unbedeutende Geheimnisse, so leicht wie Puderquasten. Doch dann kamen die Geheimnisse, die so schwer wie ein Anker sind und mir nachts den Schlaf rauben. Ich wusste, dass Onkel Dal irgendwo eine Frau hatte, von der er uns nie erzählt hatte. Ich wusste, dass Veraleen uns - vielleicht schon bald - wieder verlassen würde, und ich wusste, dass Biswicks Daddy ein Alkoholproblem hatte, von dessen Ausmaß niemand in der Stadt etwas ahnte.
Wir befanden uns in der Vorweihnachtszeit. Das Leben schien wieder seinen gewohnten Gang zu gehen. Daddy war zu seinen Tomaten und Mama in ihren Buchladen zurückgekehrt. Sie war fast wieder die Alte. Nur ein blasser hellroter Strich auf ihrer Stirn erinnerte daran, wo sie genäht worden war. »Gott hat mich beschützt«, sagte sie zu mir, als sie aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Doch irgendwas hatte sich verändert, seit sie vom Auto angefahren worden war. Manchmal warf sie mir einen wehmütigen, sehnsuchtsvollen Blick zu, wie
ein armes
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