Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde
kann ich nicht weggehen.«
»Der geht’s doch schon viel besser.«
Ich schwieg.
»Du willst mich nicht, genauso wie alle anderen. Ich habe auf dieser Welt nur Cheeto und Daddy.«
»Ich lass dich die ganze Zeit mit mir rumlaufen, Biswick.«
»Du bist nicht meine Freundin!«, stieß er aus. »Und du bist nicht außerordentlich!« Seine Augen weiteten sich, als würde er sich in diesem Moment an etwas Schreckliches erinnern. »Du wolltest mir nicht mal die blöde alte Smiley-PEZ-Box geben! Und weiß du, was noch?«, schrie er. »Du hast nie herausgefunden, wer der Junge war, der auf dem Friedhof begraben liegt!« Er schleuderte seinen Spareribsteller auf den Boden, stürmte in die Menge der Tänzer und stieß sie wütend beiseite. Doch Bug und Tootie waren die Einzigen, die von ihm Notiz nahmen. Sie hielten kurz inne und tanzten dann weiter.
Wie sollte ich ihm mehr geben? Ich bin kein Geber. Ich bin keiner von ihnen. Und Biswick auch nicht.
Ich ging in Mamas Buchladen. Er war voller Leute, die vor der Kälte nach drinnen geflohen waren, vor allem die besonders kauzigen Einwohner von Jumbo, wie Marva Augustine, die sich hier vor ihren Kindern versteckte, und Pinell Pigg, der immer noch seinen blauen Filzhut trug. Lorelei schenkte hinten im Laden warmen Kakao aus. Mama stand hinter der Ladentheke. Sie lächelte, als sie mich erblickte. Es war dieses sehnsüchtige, melancholische Lächeln, das sie sich seit ihrem Unfall zugelegt hatte. Immer wenn ich es sah, fragte ich mich,
was sie neuerdings an mir entdeckt hatte, das sie so gern ändern wollte, aber nicht konnte.
»Wo sind Bug und Daddy?«, fragte sie.
»Bug tanzt und Daddy isst«, antwortete ich.
»Könntest du dich kurz um die Kasse kümmern, während ich mir deinen Vater für ein Tänzchen schnappe?« Wie hätte ich dazu Nein sagen können? Ich hatte Daddy niemals auch nur einen Tanzschritt machen sehen. Es würde ein ganz neues Erlebnis sein. Ich nickte. Sie nahm ihre Jacke. »Bin bald wieder da.« Bevor sie aus der Tür ging, fragte sie: »Wo ist Biswick?«
»Draußen bei den anderen Tänzern«, antwortete ich. »Schauerlich.« Das war nur die halbe Wahrheit. Dort hatte ich ihn jedenfalls zuletzt gesehen, während er sich einen Weg durch die Menge bahnte.
Ich hatte mich gerade hinter die Theke gestellt, da kam auch schon Lorelei auf mich zu. »Wo ist er?«, fragte sie mit großen, erwartungsvollen Augen. »Er wird doch wohl kommen.« Ihre neuerdings blonden Haare türmten sich hoch auf und wurden von kleinen Lichtern durchzogen. Sie sah aus wie ein wandelnder Weihnachtsbaum.
»Keine Ahnung.«
Hielten die mich hier eigentlich alle für die Tussi vom Sozialamt?
»Wenn du ihn siehst, dann versuch, ihn unbedingt hierherzubringen, okay?« Sie wirkte ganz verzweifelt. Ich konnte mir nicht im Traum vorstellen, einem Typen so hinterherzulaufen, noch dazu einem, der sich auf die Müllkippe zum Schlafen legt. Mit gesenktem Kopf schlurfte sie zu ihrem Kakao zurück. Ich langweilte mich bereits. Niemand würde auf die Idee kommen, irgendein Buch zu kaufen, solange es gratis Getränke gab.
Da erblickte ich Mona Lisa Venezuela, die lesend auf einer
Bank saß, gleich neben den Kochbüchern. Ich ging zu ihr und überlegte mir, was ich sagen könnte. Aber mir fiel nichts ein. Spielte auch keine Rolle. Sie knallte das Buch zu und verließ den Laden. Ich senkte den Blick. Sie hatte ein Buch über die Geschichte der Medizin gelesen. Auch ich hatte es schon mehrfach durchgeblättert. Ich ging zum Fenster und schaute hinaus. Dort standen sie, meine Eltern. Sie schmiegten sich eng aneinander und drehten sich langsam im Kreis, und jetzt wusste ich auch, warum Mama immer noch dort draußen war. Während Daddy sie herumdrehte, sah ich, wie er in ihr Haar flüsterte. »Helene.«
Allmählich kam alles zur Ruhe, so wie das hier immer der Fall ist. Die Älteren waren längst nach Hause gegangen, um in den eigenen vier Wänden ihre Füße hochzulegen. Nur Ramona Grace knutschte mit irgendjemandem hinter einem Azaleenbusch. Der alte Blevins war wie immer auf einer Bank eingeschlafen, weil seine Frau ihn einfach vergessen hatte, und Frida fegte auf der Straße die weggeworfenen Pappbecher und Luftschlangen zusammen. Ich sah ihr dabei zu, während ich darauf wartete, dass Mama ihren Laden abschloss. Normalerweise half ich beim Aufräumen, weil ich so viel Müll auf einem Haufen ohnehin nicht ertragen konnte, doch aus irgendeinem Grund hatte ich heute keine Lust dazu. Ich wollte
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