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Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde

Titel: Meine geordnete Welt oder Der Tag an dem alles auf den Kopf gestellt wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Crowley Knut Krueger
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lassen. Niemand hatte dagegen protestiert. Niemand wollte Biswick jetzt etwas abschlagen. Ich betrachtete die Reihe der Grabsteine, die aus dem Schnee ragten, und dachte daran, dass Jack O’Connor nur wenige Meter von hier entfernt auf dem Boden gelegen hatte. Und nun wurde er am selben Ort begraben.
    Ganz in der Nähe befand sich die Gedenktafel für den namenlosen Jungen. Ich hatte seinen Namen herausgefunden. Er hieß George Charles Williams. Ich fragte mich, ob er Georgie oder Charlie genannt worden und ob er je umarmt worden war. Ob er einen Vater und eine Mutter gehabt hatte, ja vielleicht sogar eine nervtötende Schwester, die ihm bei jeder Gelegenheit das Ohr abkaute. Ob er je die Irrlichter gesehen hatte. Und ob er an irgendetwas zwischen Himmel und Erde geglaubt hatte.
    Ich schaute mich nach Gideon um, konnte ihn aber nirgendwo entdecken.
    »Amen!«, rief der Reverend mit lauter Stimme. Die Trauergemeinde antwortete im Chor, nur Grandma wiederholte ihr Amen immer und immer wieder, nachdem alle anderen schon verstummt waren. Der Schneefall wurde dichter. Ich streckte
meine Zunge aus, um eine Schneeflocke aufzufangen. Mehrere Leute spannten ihre Schirme auf. Das Geräusch schien Grandma aufzuschrecken. »Es kommt ein schlimmer Sturm, Harley, ein schlimmer Sturm …« Daddy nahm sie schweigend am Arm und führte sie durch die Reihen der Autos. Mama ging hinter ihnen her und hatte eine Hand sanft auf Grandmas Rücken gelegt. Ich schaute nach Onkel Dal, doch er war schon weg.
    Biswick zog ein Blatt Papier aus seiner Jacke und gab es mir. Es war derselbe Bogen, der damals in die Schreibmaschine eingespannt gewesen war. June . Außer den knirschenden Schritten von Grandma, Daddy und Mama war kein Laut zu hören. Die Schritte pochten in meinen Ohren. Ich legte das Blatt in Biswicks Hand zurück, doch er ließ es einfach fallen. Wie eine Schneeflocke sank es zu Boden.
    Biswick trat einen Schritt zurück und gemeinsam mit Veraleen folgten wir Daddy und Grandma zu unserem Wagen.
    June .
     
    Kurz nachdem wir wieder zu Hause waren, trafen die ersten Trauergäste ein, klopften sich den Schnee von den Mänteln und stellten ihre kulinarischen Mitbringsel in der Küche ab. So ging das den ganzen Nachmittag. Auf dem Küchentisch standen bald herzhafte Aufläufe mit Mais, Süßkartoffeln und Makkaroni, saftige Tacos mit Hühnchen, texanische Truthahn-Tortillas sowie mein unangefochtenes Lieblingsessen: Wadines Überraschungstopf mit knusprigen Schweineschwarten. Ergänzt wurde das alles durch die üblichen Nachspeisen: typisch texanische Kuchen mit Schmand, Kakao und gehackten Pekannüssen, eine verkehrt herum gebackene Ananastarte, überbackene Brombeergrütze und verschiedene Cremes und Wackelpuddings, in denen sich Ananasstücke, Sauerkirschen und Nüsse befanden.

    Wadine und Pinell gingen mit vollen Tellern ins Wohnzimmer und warfen Biswick verstohlene Blicke zu, der tief in die Couch gesunken war. Er hatte den ganzen Tag lang kein Wort gesprochen. Ich setzte mich zu ihm und sah ihn mir genau an. Auch Mama setzte sich zu uns und betrachtete unseren heruntergekommenen Weihnachtsbaum. Doch niemand hatte das Herz, ihn abzuschmücken.
    »Die Aura eines Weihnachtsbaums verändert sich unmittelbar nach Heiligabend«, sagte sie wie zu sich selbst. »Eine verblasste, vertrocknete Schönheit …«, murmelte sie. Sie hatte recht. Weihnachtsbäume haben immer etwas Trauriges an sich, nachdem das Fest vorbei ist, egal ob ein Begräbnis stattfindet oder nicht.
    Dr. Coyote kam zu uns herüber und kniete sich neben Biswick, um ihm zu sagen, dass alles gut werden würde, doch Biswick reagierte nicht. Als er wieder wegging und Mama ihn begleitete, fragte Biswick mich: »Was ist eine Aura? Ist das eine Farbe?«
    »Manche Leute sagen, es ist wie ein Leuchten, das gewisse Dinge umgibt«, antwortete ich. In Gedanken sah ich die schimmernde Silhouette von Gideon, die sich auf dem Jumbo Lights Festival von mir entfernte.
    »Wie ein Geist?«, fragte er.
    »Ja, vielleicht«, sagte ich, indem ich erneut meinen schimmernden Engel am Weihnachtsbaum ansah. »Du glaubst doch nicht an Geister, oder?«, fragte ich. Doch er dachte an etwas ganz anderes.
    »Letzte Nacht habe ich Daddy gesehen«, sagte er blinzelnd. »Wie eine Aura.«
    »Was?«, fragte ich in dem Moment, als Lorelei vorbeikam, um ihn kurz in den Arm zu nehmen. Sie sah gar nicht gut aus. Ihre Haare teilten sich in der Mitte wie ein Vorhang, hingen schlaff herunter und bedeckten den

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