Meine gute alte Zeit - Teil I
Hecken.
Ein Tor stand offen, wir gingen hinein und pflückten weiter. Unser Korb war schon fast voll, als eine zornige, raue Stimme uns anbrüllte: »Was treibt ihr denn da?«
Es war, so schien es mir, ein Riese von Mann, erbost, mit r o tem Kopf.
Nursie sagte, wir täten nichts Böses, wir pflückten nur Pr i meln.
»Ihr habt ohne Erlaubnis mein Land betreten, das habt ihr getan! Raus mit euch! Wenn ihr nicht in einer Minute durch das Tor seid, koche ich euch bei lebendigem Leib, versta n den?«
Verzweifelt zerrte ich an Nursies Hand. Nursie konnte nicht so schnell gehen und versuchte es auch gar nicht. Panische Angst schü t telte mich. Als wir wieder auf dem Weg waren, zitterten mir vor E r leichterung die Knie. Ich war leichenblass und fühlte mich elend.
»Liebchen«, sagte Nursie, als sie es bemerkte, »du hast doch nicht g e glaubt, dass er es ernst meint? Dass er uns kochen will, meine ich?«
Ich nickte stumm. Ich hatte es deutlich vor mir ges e hen. Ein großer, dampfender Kessel auf dem Feuer, in den ich gesteckt wurde. Meine lauten Hilfeschreie.
Nursie sprach beruhigend auf mich ein. Das wäre nur so eine Reden s art, ein Scherz, sozusagen. Kein netter Mann, nein, ein sehr grober, u n freundlicher Mann, aber er hatte es nicht ernst gemeint. Es war ein Spaß.
Für mich war es kein Spaß gewesen, und noch heute läuft es mir kalt über den Rücken, wenn ich über ein Feld gehe. Seit jenem Tag bin ich nie wieder so abgrundtief erschrocken.
In meinen Albträumen habe ich diese Episode alle r dings nicht wieder durchlebt. Alle Kinder haben Al b träume, und meine drehten sich um einen Menschen, den ich »Pistole n mann« nannte. Ich hatte nie etwas über eine Figur dieser Art gelesen. Ich nannte ihn Pistolenmann, weil er mit einer Pistole bewaffnet war, nicht, weil ich Angst hatte, dass er auf mich schießen würde. Die Pistole gehörte einfach zu seiner Erscheinung, der eines Franz o sen in graublauer Uniform, eine Art Dreispitz auf dem Kopf, das gepuderte Haar zu einem Zopf geflochten. Die Pistole war eigentlich mehr eine Muskete. Se i ne bloße Anwesenheit war erschr e ckend. Die Träume fingen ganz normal an: eine Teegesellschaft oder eine Promenade mit verschiedenen Leuten, für gewöhnlich irgendeine b e scheidene Festlichkeit. Dann überkam mich plötzlich Unbehagen: Es war jemand da, der nicht hierhergehörte. Angst stieg in mir auf. Dann sah ich ihn – er saß am Te e tisch, spazie r te den Strand entlang, nahm an einem Spiel teil. Seine blassblauen Augen begegneten den meinen, und ich erwachte schreiend. »Der Pistolenmann, der Pi s tolenmann!«
»Miss Agatha hat heute Nacht wieder von ihrem Pist o lenmann geträumt«, berichtete Nursie Mutter am näch s ten Mo r gen.
»Was ist denn so Schreckliches an ihm, Liebchen?«, fragte mich Mutter dann. »Was glaubst du denn, was er dir tun will?«
Ich wusste nicht, warum er mich so erschreckte. Später veränderte sich der Traum, in dem Maß, wie der Pist o lenmann sich veränderte: Wir s a ßen manchmal um einen Teetisch, und ich richtete meine Blicke auf eine Freundin oder auch ein Mi t glied der Familie, als mir plötzlich klar wurde, dass es nicht Dorothy war oder Phyllis oder Mo n ty oder Mutter oder wer immer. Die blassblauen Augen in dem vertrauten Gesicht b e gegneten den meinen, und ich wusste: In Wir k lichkeit war es der Pistolenmann!
Mit vier Jahren verliebte ich mich. Der Gegenstand meiner Leidenschaft war ein Kadett aus Dartmouth, ein Freund me i nes Bruders. Mit seinen goldblonden Haaren und blauen Augen weckte er die roma n tischsten Gefühle in mir. Er selbst konnte nicht ahnen, welche Empfindu n gen er wachrief. Bar jeglichen Interesses an der »kleinen Schwester« seines Freundes Monty würde er, hätte man ihn gefragt, vermutlich der Me i nung Ausdruck gegeben haben, dass ich ihn nicht mochte. Der Überschwang meiner Gefühle nötigte mich, die entgegengesetzte Ric h tung einzuschlagen, wenn ich ihn kommen sah, und, wenn wir bei Tisch saßen, den Kopf abzuwenden. Mutter stellte mich sanft zur Rede.
»Ich weiß, du bist schüchtern, Schätzchen, aber du musst höflich sein. Es ist taktlos, wenn du immerzu von Philip den Kopf abwendest, und wenn er zu dir spricht, etwas Unve r ständliches murmelst. Auch wenn du ihn nicht magst, höflich musst du sein.«
Ich ihn nicht mögen! Sie hatte ja keine Ahnung. Wenn ich es mir jetzt überlege: wie leicht doch eine junge Liebe zu befried i gen ist! Sie fordert nichts – keinen Blick,
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