Meine gute alte Zeit - Teil I
Schwestern widmeten sich ihren Sonntagvormittag-Geschäften. Diese bestanden aus langwierigen und komplizierten Abrec h nungen. Oma B. erledigte eine große A n zahl Einkäufe im »Army and Navy«-Kaufhaus in der Victoria Street. Das »Army and Navy«-Kaufhaus war für beide Schwestern der Mi t telpunkt der Welt. Listen, Preise und Rechnungen wurden von den beiden fro h gestimmt und eingehend überprüft. Sie unterhielten sich über die Qualität der W a ren: »Es hätte dir auch nicht gefallen, Margaret. Ke i ne gute Qualität – kein Vergleich mit dem letzten pflaume n farbigen Samt.« Dann holte Omatante ihre große Geldt a sche hervor, die mir immer ehrfürchtige Scheu einflö ß te, und die ich als äußeres und sicheres Zeichen imme n sen Reichtums ansah. Das mittlere Fach enthielt eine Menge Gol d sovereigns, und der Rest war prall mit Halfcrowns und Sixpe n ce gefüllt – da und dort fand sich auch ein Fünf-Schilling-Stück. Nun wurden die Rechnungen für Reparaturen und kle i ne Einkäufe beglichen. Das »Army and Navy«-Kaufhaus liefe r te natürlich auf Rechnung – ich glaube, dass Omatante stets ein Geldgeschenk ei n schloss, um Oma B.s Zeitaufwand und Mühe abzugelten. Die Schwestern waren einander z u getan, aber es gab auch reichlich Streitigkeiten und Eifersüchteleien zw i schen den zwei Frauen. Es machte ihnen beiden Spaß, die andere zu hänseln und ihr eins auszuwischen. Oma B. war, nach eigenen A n gaben, die Schönheit der Familie gewesen. Omatante pflegte das a b zustreiten. »Mary (oder Polly, wie sie sie nannte) hatte ein hübsches Gesicht, das schon«, sagte sie, »aber meine Figur hatte sie natürlich nicht. Männer legen Wert auf eine gute Figur.«
Nachdem die sonntägliche Rechnerei beendet und die Liste der Beso r gungen für die kommende Woche fertig gestellt war, erschienen die Onkel. Onkel Ernest bekleid e te eine Stellung im Innenminister i um, und Onkel Harry war Direktor des »Army and Navy«-Kaufhauses. Der älteste Onkel, Onkel Fred, befand sich bei seinem R e giment in Indien. Der Tisch wurde gedeckt und das Sonntagessen aufgetragen.
Ein monumentaler Braten, dann Kirschtorte mit Sahne, ein Riese n stück Käse und schließlich Obst – serviert auf den schönsten Dessertte l lern, die man sich vorstellen kann. Ich habe sie noch; achtzehn, glaube ich, von den ursprünglichen vierundzwanzig, und für mehr als sechzig Jahre ist das gar nicht so schlecht. Die Ränder sind hel l grün, mit goldenen B o gen verziert, und in der Mitte eines jeden Tellers ist eine andere Frucht zu sehen. Meine lieb s te Frucht war und ist heute noch die Feige, eine saftige, purpurrote Feige. Für meine Tochter R o salind war es immer die Stachelbeere, eine ungewöhnlich große und delikate Stachelbeere. Dazu gab es auch noch einen her r lichen Pfirsich, rote Johannisbeeren, weiße Johannisbe e ren, Himbeeren, Erdbeeren und viele andere. Der Höh e punkt des Mahls war gekommen, sobald diese Teller, jeder mit Spi t zendecken und Fingernapf, auf den Tisch gestellt wurden. Jetzt musste einer nach dem anderen raten, welche Frucht auf seinem Teller zu sehen war. W a rum uns dieses Spiel so viel Spaß machte, kann ich heute nicht mehr sagen, aber es war immer ein aufregender Augenblick, und wenn man richtig riet, hatte man das Gefühl, etwas höchst Ane r kennenswertes vollbracht zu haben.
Nach solch lukullischem Mahl wurde geschlafen. Om a tante zog sich auf ihren Fauteuil vor dem Kamin zurück. Oma B. ließ sich auf dem weinfarbenen Ledersofa nieder, und über ihre gewaltigen Formen wurde ein Afghan g e breitet. Was die Onkel machten, weiß ich nicht mehr. Kann sein, dass sie sp a zieren gingen, vielleicht zogen sie sich aber auch nur in den Salon zurück. Das Frühstück s zimmer konnten sie nicht benü t zen, weil es das Heiligtum von Miss Grant war, die damals die Stellung einer Nä h mamsell bekleidete. »So ein trauriger Fall, me i ne Liebe«, pflegte Oma ihren Freundinnen zuzuflüstern, »so ein armes Geschöpf, deformiert, nur ein einziger Ausgang, wie beim Huhn!« Dieser Satz fe s selte mich immer wieder, weil ich nicht wusste, was er bedeutete. Von was für e i nem Au s gang war da die Rede?
Nachdem alle außer mir zumindest eine Stunde fest g e schlafen hatten – ich pflegte mich vorsichtig im Schauke l stuhl zu schaukeln –, wurde »Schulmeister« gespielt. S o wohl Onkel Harry wie auch Onkel Ernest taten sich in diesem Spiel hervor. Wir saßen alle in einer Reihe, und wer immer
Weitere Kostenlose Bücher