Meine gute alte Zeit - Teil I
Dabei fällt mir jetzt ein, dass Nähmamsellen in jenen Tagen das unvermeidliche Zubehör eines Haushalts darstellten. Zwischen ihnen allen bestanden gewisse Ähnlichkeiten: sie hatten normalerweise sehr feine Manieren, lebten in beengten Ve r hältnissen und wurden von der Dame des Hauses und der Familie mit ausgesuchter Höflichkeit, vom Personal hingegen höchst unliebenswürdig beha n delt. Sie bekamen ihr Essen aufs Zimmer und waren, soweit ich mich entsi n nen kann, nicht imstande, Kleider zu liefern, die passten. Alle waren entweder zu eng oder hingen in losen Falten herunter. Die Antwort auf allfällige Bemängelungen lautete für gewöhnlich: »Ach ja, aber Miss James hat so ein schweres Leben g e habt!«
Im Speisezimmer verbrachte Oma ihr Leben in viktor i anischer Behaglichkeit. Sie saß entweder am großen Mi t teltisch in einem enormen L e dersessel und schrieb Briefe oder ruhte in einem großen Samtfa u teuil vor dem Kamin. Auf den Tischen, auf dem Sofa und auf einigen Stühlen türmten sich Bücher – Bücher, die hier ihren Platz hatten, und solche, die aus lose gebundenen Paketen hervorguc k ten. Oma kaufte immerzu Bücher, für sich und für G e schenke, und am Ende wurden die Bücher zu viel für sie, und sie vergaß, wem sie sie hatte sch i cken wollen. Oder sie entdeckte, dass »der liebe kleine Junge von Mr Be n nett«, von ihr unb e merkt, achtzehn geworden war und sich kaum noch für Die Jungem von St. Guldred’s oder Tim o thy Tigers Abenteuer int e ressieren dürfte.
Eines der großen morgendlichen Ereignisse war Omas Visite der Speisekammer, die neben der Seitentür lag, die in den Ga r ten führte. Ich war immer gleich zur Stelle, und dann rief Oma: »Was kann ein kleines Mädchen hier nur wollen?« Erwartung s voll stand das kleine Mädchen da und spähte in die Tiefen der Kammer. Reihen von Gl ä sern mit Marmeladen und Eing e machtem, Kisten mit Datteln, Obstkonserven, Feigen, Rein e clauden, Kirschen, kandierte Angelikawu r zel, Päckchen mit Rosinen und Korinthen, pfundweise Butter und S ä cke voll Zucker, Tee und Mehl. Hier wurden alle Lebensmittel aufb e wahrt und jeden Tag im Hinblick auf den Speisezettel feierlich herausgegeben. Auch wurde eine gründliche Unters u chung darüber vorgenommen, auf welche Weise die Z u teilungen des vergangenen Tages verwertet worden w a ren. Oma hielt offene Tafel für alle, war jedoch jeglicher Verschwendung abhold. War für den Bedarf des Tages g e sorgt, und erwies sich die Rechnung des vergangenen Tages als zufrieden stellend, öffnete Oma ein Glas Rein e clauden, und ich lief frö h lich und mit vollen Händen in den Garten hinaus.
Wie sonderbar ist es doch, wenn man an seine Kindheit zurückdenkt, dass das Wetter an bestimmten Orten i m mer das gleiche zu sein scheint. In Torquay ist es immer ein Herbst- oder Winternachmittag. Im Kamin brennt ein Feuer, auf dem Kamingitter hängt Wäsche zum Troc k nen, und draußen wi r beln Blätter durch die Luft oder manchmal auch – das war besonders aufregend – Schne e flocken. Im Garten in Ealing ist es immer Sommer, ein zumeist heißer Sommer. Ich spüre noch, wie mir, wenn ich durch die Seitentür gehe, die trockene heiße Luft en t gege n schlägt. Auch dieser kleine Flecken grünen Rasens, von Rosenbäumchen eingeschlossen, war eine Welt für sich. Das Wichtigste waren die Rosen. Die verblühten Köpfchen wurden täglich en t fernt, die anderen Rosen geschnitten, ins Haus gebracht und in vielen kleinen V a sen arrangiert. Oma war unmäßig stolz auf ihre Rosen; ihre Größe und Schönheit schrieb sie dem Inhalt der Nachttöpfe zu. »Flüssiger Dünger, meine Li e be – es gibt nichts Besseres! Niemand hat solche Rosen wie ich!«
Sonntags kamen meine andere Großmutter und für g e wöh n lich ein oder zwei Onkel zum Mittagessen. Es war ein herrlicher viktorian i scher Tag. Oma Boehmer, die Mutter meiner Mutter, kurz Oma B. genannt, traf gegen elf Uhr ein. Sie keuchte ein wenig, weil sie sehr korpulent war, noch beleibter als Omatante. Nachdem sie, aus Lo n don kommend, eine Au f einanderfolge von Zügen und Omnibussen durc h gestanden hatte, dachte sie zunächst nur daran, ihre Knopfstiefel loszuwerden. Ihr Diens t mädchen Harriet pflegte sie auf diesen Reisen zu begle i ten. Harriet kniete vor ihr nieder, um ihr die Stiefel au s zuziehen und sie durch ein Paar bequemer Pantoffeln zu ersetzen. Dann ließ sich Oma B. mit einem tiefen Seufzer am Speisezimmertisch nieder, und die zwei
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