Meine gute alte Zeit - Teil I
blind b e gleitete er Nursie und mich auf unserem täglichen Sp a ziergang, als, wä h rend wir die Straße überquerten, der Karren eines Händlers um die Ecke geschossen kam und ihn überfuhr. Wir brachten ihn in einer Kutsche nac h hause, und Mutter schickte nach dem Tierarzt, aber wen i ge Stunden später starb Scotty. Monty war mit Freunden segeln gegangen. Mutter zerbrach sich den Kopf, wie sie es ihm beibringen sollte. Sie ließ den Kadaver ins Wasc h haus legen und wartete unruhig auf die Rückkehr me i nes Bruders. Doch statt wie sonst gleich ins Haus zu ko m men, ging er unglücklicherwe i se zuerst zum Waschhaus hinüber, weil er sich ein paar Werkzeuge holen wollte, die er brauchte. Dort fand er den toten Scotty. Er ging gleich wieder fort und muss stundenlang herumgelaufen sein. Erst kurz vor Mitte r nacht kam er heim. Unsere Eltern waren so verständnisvoll, dass sie über Scottys Ende gar nicht mit ihm sprachen. Er grub Scotty selbst ein Grab im Hund e friedhof in einer Ecke des Gartens, wo im Lauf der Jahre jeder unserer Hunde einen kle i nen Grabstein mit seinem Namen bekam.
Mein Bruder, der dazu neigte, mich unbarmherzig zu hänseln, pfle g te mich »dürres Huhn« zu nennen. Worauf ich ihm jedes Mal den Gefallen tat, in Tränen auszubr e chen. Warum mich diese Bezeichnung so wütend machte, weiß ich nicht. Da ich eine Heulsuse war, lief ich dann schluc h zend zu Mutter: »Ich bin doch kein dürres Huhn, nicht wahr, Mutti?« Worauf Mutter sehr gelassen erwide r te: »Wenn du nicht geneckt we r den willst, warum läufst du dann Monty immerzu nach?«
Auf diese Frage gab es keine Antwort, aber die Faszin a tion, die mein Bruder auf mich ausübte, war so groß, dass ich mich nicht von ihm fernhalten konnte. Er war in e i nem Alter, in dem kleine Schwestern einem Jungen lästi g fallen und auf die Nerven gehen. Manchmal war er so gn ä dig, mir Zugang zu seiner »Werkstatt« zu gewähren, wo er eine Dre h bank stehen hatte, und mir zu gestatten, ihm Holzstücke und Werkzeuge zu halten und zu reichen. Aber früher oder später wurde das dürre Huhn aufgefo r dert zu verschwinden.
Einmal zeigte er sich mir so gewogen, dass er sich aus eig e nen Stücken erbötig machte, mich in seinem Boot mitzune h men. Er besaß ein kleines Dinghy, mit dem er in der Tor Bay segelte. Zur allgemeinen Überraschung e r hielt ich die Erlaubnis, mitzufahren. Nursie, die d a mals noch bei uns war, sprach sich entschieden gegen das U n terne h men aus, ihrer Meinung nach würde ich nass und schmutzig werden, mir das Kleid ze r reißen, einen Finger einklemmen und fast sicher ertrinken. »Junge Herren wissen nicht, wie man auf ein kleines Mä d chen aufpasst.«
Mutter sagte, sie glaube, ich wäre vernünftig genug, um nicht ins Wa s ser zu fallen, und dass ich eine Erfahrung machen würde. Vielleicht wol l te sie auch auf diese Weise Monty zeigen, wie hoch sie ihm seine ungewöhnliche Selbstlosigkeit anrec h nete. Wir gingen also durch die Stadt und auf den Segelsteg. Monty brachte das Boot zur Treppe, und Nursie reichte mich zu ihm hinunter. Im letzten Auge n blick bekam Mutter es mit der Angst zu tun.
»Du musst vorsichtig sein, Monty. Sehr vorsichtig! Und bleib nicht zu lange weg. Du wirst doch gut auf sie au f passen, nicht wahr?«
»Es wird ihr nichts passieren«, gab mein Bruder, der sein großherz i ges Angebot vielleicht schon bereute, kurz zurück. Zu mir sagte er: »Bleib da sitzen, wo du bist, und verhalte dich ruhig. Und rühr um Gottes willen nichts an.«
Gestalten einer griechischen Tragödie gleich standen Mutter und Nu r sie am anderen Ende des Landestegs und blickten uns nach. Wä h rend Nursie, dem Weinen nahe, drohendes Unheil prophezeite, versuchte Mutter ihre Befürchtungen zu zerstre u en. Wahrscheinlich dachte sie da r an, wie wenig seefest sie selbst war. »Ich glaube nicht, dass sie je wieder segeln gehen wird. Die See ist doch recht bewegt.«
Ihr Ausspruch war nur allzu wahr. Grün im Gesicht, wurde ich w e nig später wieder zurückgebracht, nachdem ich, wie mein Bruder es ausdrückte, dreimal »die Fische gefüttert« ha t te. In höchstem Maß verärgert, setzte er mich an Land. Die Frauen wären doch alle gleich, meinte er.
4
Ich war noch keine fünf Jahre alt, als ich die Angst ke n nen lernte. An einem schönen Frühlingstag gingen Nursie und ich spazieren. Wir hatten die Eisenbahngleise übe r quert, schlenderten den Weg nach Shiphay hi n auf und pflückten Primeln vor den
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