Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine gute alte Zeit - Teil I

Meine gute alte Zeit - Teil I

Titel: Meine gute alte Zeit - Teil I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
Vom Netzwerk:
Schwe s ter und erzählte mir viele Geschichten. Sie bemühte sich auch, etwas zu meiner Bildung be i zutragen, indem sie mich mithilfe eines Leitfadens, der Le Petit Précepteur hieß, Fra n zösisch lehrte. Sie war, fürchte ich, keine gute Lehr e rin, und ich fasste eine heftige Abneigung gegen das Buch. Zweimal versteckte ich es geschickt hinter anderen B ü chern, aber es dauerte immer nur sehr kurze Zeit, bis es wieder zum Vo r schein kam.
    Also musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. In einer Ecke des Zimmers stand ein riesiger Glaskasten mit einem ausgestopften, weißköpfigen Seeadler, Vaters ga n zer Stolz. Heimlich ließ ich den Le Petit Précepteur hinter dem Adler in einen nicht einzusehenden Wi n kel des Zimmers gleiten. Mit bestem Erfolg. Es vergingen me h rere Tage, und selbst eine gründliche Suche verlief erge b nislos.
    Mutter aber machte meine Pläne mühelos zunichte. Sie set z te einen Preis aus – eine ganz besonders leckere Schokolade –, der demjenigen zufallen sollte, der das Buch fand. Ich ging ihr in die Falle. Nachdem ich mich überall umgesehen hatte, kletterte ich schließlich auf e i nen Stuhl, guckte hinter den Adler und rief mit übe r raschter Stimme: »Ach, da ist es ja!« Die Str a fe folgte auf dem Fuße. Ich wurde g e scholten und für den Rest des Tages ins Bett gesteckt.
    Meine Schwester hatte ein Spiel erfunden, das mich gleichzeitig beza u berte und zu Tode erschreckte. Es hieß »Die ältere Schwester«. Es ging davon aus, dass es in u n serer Familie eine ältere Schwester gab, älter als Madge und ich. Sie war wahnsi n nig und lebte in einer Höhle bei Corbin’s Head, kam aber manchmal zu uns nachhause. Im Aussehen war sie von meiner Schwester nicht zu u n terscheiden, wohl aber in ihrer Stimme. Es war eine e r schreckende, weiche, ölige Stimme.
    »Du weißt, wer ich bin, nicht wahr, Schätzchen? Ich bin deine Schwe s ter Madge. Du glaubst doch nicht, ich wäre jemand anders, oder? So etwas kommt dir doch nicht in den Sinn, nicht wahr?«
    Panische Angst befiel mich. Natürlich wusste ich, dass es nur Madge war, die mir etwas vormachte – aber war sie es auch wirklich? Diese Stimme, diese Augen, die mich so tückisch von der Seite ansahen. Es war die ältere Schwe s ter!
    Mutter wurde böse. »Ich will nicht, dass du das Kind noch länger mit diesem dummen Spiel ängstigst, Madge!«
    Madges Antwort klang vernünftig: »Aber sie bittet mich doch da r um.«
    Das stimmte. »Wird die ältere Schwester bald wieder kommen?«, pfle g te ich sie zu fragen.
    »Ich weiß nicht. Möchtest du, dass sie kommt?«
    »Ja… ja… ich…« Wollte ich es wirklich? Ich denke schon.
    Meiner Bitte wurde nie sofort stattgegeben. Zwei Tage später klopfte es an der Zimmertür, und die Stimme sa g te: »Kann ich hereinkommen, meine Liebe? Ich bin deine ältere Schwe s ter…«
    Noch Jahre danach brauchte Madge nur mit der Sti m me der älteren Schwester zu sprechen, und schon lief es mir kalt über den Rücken.
    Warum gefiel es mir so gut, mich ängstigen zu lassen? W a rum hören Kinder so gerne Geschichten von Bären, Wölfen und Hexen? Lehnt sich etwas in uns gegen ein zu sicheres Leben auf? Brauchen die Me n schen ein gewisses Ausmaß von Gefahren in ihrem Dasein? Drängt es uns in s tinktiv, gegen etwas zu kämpfen, es zu überwinden – uns selbst zu bestätigen? Es ist wie mit den meisten Di n gen im Leben: Man möc h te sich ein wenig das Fürchten lehren lassen – aber nicht zu viel.
    Madge muss eine begabte Geschichtenerzählerin gew e sen sein. Ihr Bruder, als er noch klein war, konnte nicht genug bekommen. »Erzähl sie mir noch einmal.«
    »Hab keine Lust.«
    »Ach, bitte!«
    »Nein, ich will nicht.«
    »Bitte! Ich tue alles.«
    »Lässt du mich in deinen Finger beißen?«
    »Ja.«
    »Ich werde fest zubeißen. Vielleicht beiße ich ihn dir ab.«
    »Das ist mir gleich.«
    Madge tut ihm den Gefallen und erzählt ihm die G e schichte noch einmal. Dann nimmt sie seinen Finger und beißt hinein. Monty brüllt. Mutter kommt. Madge wird gescholten.
    »Aber wir haben es doch so ausgemacht«, sagt sie, ohne sich reum ü tig zu zeigen.
    Ich erinnere mich gut an die erste Geschichte, die ich niederschrieb. Die handelnden Personen waren die vo r nehme Lady Madge (die Gute) und die blutige Lady Agatha (die Böse), und es ging um die Erbschaft eines Schlosses.
    Ich zeigte Madge die Geschichte und schlug ihr vor, sie szenisch da r zustellen. Sie sagte sofort, dass sie lieber die

Weitere Kostenlose Bücher