Meine gute alte Zeit - Teil I
blutige Lady Madge spielen wollte, ich könne die vo r nehme Lady Agatha sein.
»Aber willst du denn nicht die Gute sein?«, fragte ich sie en t geistert. Nein, antwortete meine Schwester, es mache doch viel mehr Spaß, die Böse zu sein. Mir konnte es recht sein, denn es war nur Höflichkeit g e wesen, die mich veranlasst hatte, Lady Madge die Aura der Vo r nehmheit zu verleihen.
Ich erinnere mich, dass Vater herzlich über meine B e mühungen lachte, und Mutter meinte, ich sollte den Au s druck »blutig« vielleicht besser nicht gebrauchen, denn es sei kein sehr nettes Wort. »Aber sie war blutig«, rechtfe r tigte ich mich. »Sie hat eine Menge Leute umgebracht. So wie Maria die Blutige, die die Menschen auf dem Sche i terhaufen hat verbrennen lassen.«
Märchenbücher spielten in meinem Leben eine große Rolle. Oma schenkte sie mir zum Geburtstag und zu Weihnachten. Das Gelbe Märchenbuch, Das Blaue Märche n buch, und so weiter. Ich fand sie alle herrlich und las sie immer wieder von Neuem.
Man betrachtete das Lesen von Geschichtenbüchern als ein wenig zu vergnüglich, um eine Tugend darin zu erbl i cken. Keine Geschichtenb ü cher vor dem Mittagessen. Vormittags sollten die Kinder etwas »Nützl i ches« tun. Noch heute habe ich Schuldgefühle, wenn ich mich nach dem Frühstück hinse t ze, um einen Roman zu lesen.
Einige Zeit bevor Nursie uns verließ, fuhren meine E l tern nach Am e rika und blieben zwei oder drei Monate fort. Nursie und ich übersiede l ten nach Ealing, wo ich mich sehr wohl fühlte. Die Stütze von Omas Haushalt war eine alte verrunzelte Köchin namens Hannah. Sie war so mager wie unsere Jane dick, eine Bohnenstange mit tief durc h furchtem Gesicht und herunterhängenden Schultern. Sie kochte her r lich. Einmal fiel ich bei ihr in Ungnade, als ich sie fragte, was Innereien wären. Offe n bar waren Innereien etwas, über das gut erzogene ju n ge Damen keine Fragen stellten. Ich wollte sie hänseln, i n dem ich in der Küche hin- und herlief und immerfort rief: »Was sind Innereien, Hannah? Jetzt frage ich dich schon zum dritten Mal: Was sind Inn e reien?« etc. Schließlich holte Nursie mich aus der Küche und schimp f te mich aus, aber Hannah sprach zwei Tage kein Wort mit mir.
Während meines Aufenthalts in Ealing muss man mich wohl zum D i amantenen-Jubiläum mitgenommen haben, denn vor Kurzem fiel mir ein Brief in die Hände, den Vater mir aus Amerika geschrieben hat. Er ist im Stil j e ner Zeit abgefasst und daher Vaters gesprochenem Wort äußerst unähnlich – man schlug beim Briefschreiben e i nen ganz bestimmten, schwülst i gen Ton an, während Vater sich einer zumeist lockeren, ein klein wenig derben Redeweise befleißigte.
»Du musst sehr artig zu der lieben Omatante sein, Agatha. Du weißt, wie gut sie immer zu dir gewesen ist. Wie ich höre, wirst Du dieses wunderbare Schauspiel miterleben können. Du wirst es nie ve r gessen, so etwas sieht man nur einmal im Leben. Du musst ihr sagen, wie dankbar Du ihr bist, welche Freude sie Dir damit g e macht hat. Ich wollte, ich könnte dabei sein und Mutter auch. Ich weiß, dass Du es nie vergessen wirst.«
Vater war ein schlechter Prophet, denn ich habe es verge s sen. Wie schwer man es doch mit Kindern hat! Wenn ich zurückblicke, was ist mir im Gedächtnis haften gebli e ben? Unwichtige Dinge: Die Eigenheiten unserer Nä h mamsellen, die Brotkringel, die ich in der Küche fabr i zierte, wie Oberst F. aus dem Mund roch – und was habe ich ve r gessen? Ein einmaliges Schauspiel – und um mir die Möglichkeit zu geben, es zu sehen und zu geni e ßen, hatte jemand viel Geld ausgegeben! Was für ein schlec h tes, undankbares Kind!
Das erinnert mich an ein Zusammentreffen – so so n derbar, dass man es nicht für möglich halten würde. Es muss bei Königin Viktorias Bee r digung gewesen sein. Sowohl Omatante wie auch Oma B. wollten den Le i chenzug sehen. In einem Haus in der Nähe von Paddin g ton hatten sie ein Fenster gemietet, dort wollten sie ei n ander am Tag des Begräbnisses treffen. Um nicht zu spät zu kommen, erhob sich Oma in ihrem Haus in Ealing schon um fünf Uhr früh, sie wollte rechtzeitig im Bah n hof Pa d dington eintreffen. Nach ihren Berechnungen würde sie drei Stunden Zeit haben, um ihren Aussicht s punkt zu erreichen. Aber ihre Rechnung ging leider nicht auf. Die Straßen waren ve r stopft. Kurz nachdem sie den Bahnhof Paddington hinter sich gelassen hatte, konnte sie weder vor noch zurück.
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