Meine gute alte Zeit - Teil I
ich ausgeheckt ha t ten. Aus allen Kleidungsstücken, die sie während der Flitte r wochen aus ihren Koffern holten, rieselte Reis. Wir banden Seide n schuhe an ihren Wagen und schrieben mit Kreide drauf »Mrs Jimmy Watts ist ein prima Name.« So fuhren sie in ihre Flitterwochen nach It a lien.
Mutter zog sich erschöpft und weinend in ihr Bett, Mr und Mrs Watts in ihr Hotel zurück – auch Mrs Watts vermutlich zu dem Zweck, sich gründlich auszuweinen. Hochzeiten scheinen nun einmal diese Wirkung auf Mü t ter zu haben. Die jungen Watts, Vetter Gerald und ich, blieben uns selbst überlassen. Wir beäugten uns mit dem Argwohn fremder Hunde und versuchten uns zu en t scheiden, ob wir uns mögen sollten oder nicht. Anfangs bestand ein starker Antagoni s mus zwischen Nan Watts und mir. Bedauerlicherweise, aber durchaus im Einklang mit den Gepflogenheiten jener Tage, waren wir von uns e ren respektiven Famil i en eine über die andere aufgeklärt worden. Man hatte Nan, die eine ungebärdige, ausgela s sene Range war, wissen la s sen, wie vorbildlich Agatha sich immer betrug, »so still und artig«. Und während man Nan meinen Anstand und meine Ernsthaftigkeit pries, wurde mir von Nan berichtet. »Sie ist niemals schüc h tern«, hieß es, »antwortet i m mer, wenn sie gefragt wird – errötet nie, spricht nie undeutlich, sitzt nie stumm da.« Kein Wunder, dass wir uns mit einiger Feindseligkeit g e genübertraten.
Es folgte eine unbehagliche halbe Stunde, aber dann lösten sich die Spannungen. Am Ende gab es im Schu l zimmer ein Hindernisrennen mit kühnen Sprüngen von aufeinandergest a pelten Stühlen auf das breite und nicht mehr ganz neue Polstersofa. Wir lachten, schrien, kreisc h ten und unterhielten uns königlich. Nan revidierte ihre Meinung über mich – das war kein stilles, artiges Mä d chen, das sich da die Lunge aus dem Hals brüllte. Ich revidierte meine Meinung über Nan als eine hochnäsige Pute, die den Mund voll nahm und bei den E r wachsenen »in« war. Wir unterhielten uns prächtig und fanden eina n der sehr sympathisch – die Federn des Sofas hingegen waren auf ewig ruiniert! Anschließend bekamen wir b e legte Brote zum Nach t mahl und gingen ins Theater zu den Piraten von Penzance. Damals begann eine Freun d schaft, die – mit Unterbrechungen – viele Jahre lang a n dauerte. Wir ließen sie ei n schlafen, erneuerten sie, und wenn wir wieder zusammenk a men, schien sich nichts verändert zu h a ben. Nan ist eine der Freundinnen, die mir jetzt am meisten fehlen. Es gab nicht viele, mit denen ich so über Abney Hall und Ashfield und die alten Zeiten reden konnte, über unsere Lausbubenstreiche, unsere Verehrer und über die Theaterstücke, die wir auffüh r ten.
Mit Madges Auszug aus Haus Ashfield begann der zweite Abschnitt meines Lebens. Ich war noch ein Kind, aber die erste Phase meiner Kindheit war zu Ende. Der leuchtende Glanz der Glückseligkeit, das an Verzweiflung grenzende Leid, die tiefe Bedeutung jedes einzelnen L e benstages: Das sind die Merkmale der Kindheit. Siche r heit gehört dazu, und das völlige Fehlen jedes Gedankens an das Morgen. Wir waren nicht mehr die Millers – die Familie Miller. Wir waren zwei Menschen, die in einem Haus wohnten: eine Frau mittleren Alters und ein une r fahrenes, naives Mädchen. Alles schien gleich geblieben zu sein, aber die Atm o sphäre hatte sich verändert.
Seit Vaters Tod erlitt Mutter immer wieder Herzanfälle. Sie setzten völlig unerwartet ein, und nichts, was die Är z te ihr verschrieben, half. Ich lernte das Gefühl der Sorge um einen geliebten Menschen kennen, und weil ich doch noch ein Kind war, übertrieb ich diese Sorge. Mit klo p fendem Herzen pflegte ich nachts aufzuwachen, übe r zeugt, dass Mutter tot war. Ich glaube, ich wusste, dass es töricht von mir war, so überspannten Gefühlen nac h zugeben, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich stand auf, schlich den Gang hinunter, kniete, den Kopf an der Angel, vor Mu t ters Tür nieder und versuchte, sie atmen zu hören. Oft war ich schnell wieder beruhigt – ich hörte sie schnarchen. Mutter hatte einen eigenen Schnarchstil entwickelt: Es begann ganz zart und pianissimo und ste i ge r te sich zu einer mächtigen Explosion; danach pflegte sie sich auf die andere Seite zu legen, und mindestens dreiviertel Stunden lang war kein Schna r chen mehr zu vernehmen.
Wenn ich sie also schnarchen hörte, kehrte ich beruhigt ins Bett z u rück und schlief weiter. Hörte ich nichts,
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