Meine gute alte Zeit - Teil I
Schläfen gepresst, kam Mutter herausgestürzt. Sie lief ins Nebenzimmer und schloss die Tür hinter sich zu. Eine Krankenschwester kam heraus und sprach zu Oma, die die Treppe heraufkam. »Es ist vorbei«, sagte sie. Ich wusste, dass mein Vater tot war.
Natürlich nahm man ein Kind nicht zum Begräbnis mit. In einem sel t samen Zustand innerer Unruhe ging ich durch das Haus. Etwas Entsetzliches war geschehen, e t was Undenkbares. Die Jalousien waren geschlossen, die Lichter brannten. In ihrem Lehnsessel im Es s zimmer saß Oma und schrieb endlose Briefe. Von Zeit zu Zeit schü t telte sie traurig den Kopf.
Mutter lag in ihrem Zimmer. Sie war nur aufgestanden, um zur Beerdigung zu gehen. Zwei Tage lang nahm sie keine Na h rung zu sich – ich hörte, wie Hannah sich dazu äußerte. Ich erinnere mich Hannahs mit Dankbarkeit. Die liebe alte Hannah mit ihrem sorgenzerfurchten G e sicht! Sie rief mich in die Küche und sagte, sie brauche jema n den, der ihr beim Teiga n rühren helfe. »Sie waren einander sehr zugetan«, sagte sie i m mer wieder. »Es war eine gute Ehe.«
Ja, es war wirklich eine gute Ehe. Unter verschiedenen alten Sachen fand ich einen Brief, den Vater Mutter mö g licherweise nur drei oder vier Tage vor seinem Tod g e schrieben hat. Er schrieb, wie sehr er sich d a nach sehne, zu ihr nach Torquay zurückzukehren. Er habe in Lo n don nichts ausgerichtet, habe aber das Gefühl, dass er das alles ve r gessen würde, sobald er wieder bei seiner liebsten Clara wäre. Er habe es ihr schon oft gesagt, wie viel sie ihm bedeute, schrieb er weiter, aber er wolle es ihr noch einmal wiederholen. »Du hast meinem Leben erst Sinn gegeben. Kein Mann hat je so eine Frau gehabt. Mit j e dem Jahr, das ich mit Dir verheiratet bin, liebe ich Dich mehr. Ich danke Dir für Deine He r zenswärme, Deine Liebe und Zärtlichkeit. Gott segne Dich, mein Te u erstes. Wir werden bald wieder vereint sein.«
Ich fand diesen Brief in einer mit Stickerei verzierten Brieft a sche. Es war die Brieftasche, die Mutter als junges Mädchen für ihn bestickt und ihm nach Amerika g e schickt hatte. Er hatte sie immer aufgehoben und zwei Gedichte darin aufb e wahrt, die sie ihm geschrieben hatte. Mutter legte diesen Brief dazu.
In jenen Tagen herrschte eine fast gespenstische Atm o sphäre in dem Haus in Ealing. Es war voll raunender Verwandter – Oma B. die Onkel und ihre Frauen, Gro ß tanten, Omas alte Busenfreundinnen – sie saßen herum, flüsterten und seufzten und schüttelten die Köpfe. Und alle tr u gen Trauer – auch ich hatte ein schwarzes Kleid an. Ich muss zugeben, dass meine Trauerkleidung damals mehr oder weniger mein einziger Trost war. Wenn ich mein schwarzes Kleid anzog, fühlte ich mich wic h tig, ich spielte eine Rolle und gehörte dazu.
Immer mehr tuschelten sie: »Wirklich wahr, man muss Clara sagen, sie soll sich zusammennehmen!« Ab und zu richtete Oma das Wort an Mu t ter: »Möchtest du nicht diesen Brief lesen, den ich von Mr B oder Mrs C b e kommen habe? Solch ein schöner Beileidsbrief – ich bin s i cher, er würde dich ein wenig trösten.« Mutter erwiderte heftig: »Ich will ihn nicht sehen!«
Ihre eigenen Briefe machte sie auf, legte sie aber gleich wi e der weg. Nur mit einem ging sie anders um. »Ist der von Cassie?«, fragte Oma. »Ja, Tantchen, er ist von Ca s sie.« Sie faltete ihn zusammen und steckte ihn in die T a sche.
Cassie war meine amerikanische Patentante, Mrs Sull i van. Wahrschei n lich habe ich sie schon als kleines Kind gesehen, aber ich eri n nere mich erst an sie, als sie etwa ein Jahr später nach London kam. Sie war ein wunderb a rer Mensch: eine kle i ne Frau mit weißen Haaren und dem heitersten, liebsten G e sicht, das man sich vorstellen kann. Sie barst förmlich vor Lebenskraft und strahlte eine n a türliche Fröhlichkeit aus – obwohl sie ein unsagbar tra u riges Leben hinter sich hatte. Ihr Mann, den sie sehr g e liebt hatte, war ganz jung gestorben. Sie hatte zwei re i zende Jungen gehabt, die an einer Lähmung sta r ben. »Ein Kindermädchen muss sie ins feuchte Gras gesetzt h a ben«, meinte meine Großmutter. In Wahrheit war es wohl Kinderlähmung gewesen, die man damals noch nicht erkannte. Man sprach von rheumatischem Fieber und sah dessen Urs a che in der Feuchtigkeit. Wie auch immer, ihre zwei Kinder waren gestorben. Einer ihrer erwachsenen Neffen, der im se l ben Haus wohnte, war ebenfalls an dieser Lähmung erkrankt und lebte als Krüppel weiter. Aber trotz
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