Meine gute alte Zeit - Teil I
Trambahn sah ich fahren
in ihrer goldenroten Pracht
die Straße auf, die Straße nieder,
doch allzusehr hat es gekracht,
der Schreck mir fuhr in alle Glieder.
In der nächsten Strophe machte ich mich darüber lu s tig, dass der »(Gleit)schuh drückte«. (Es gab da einen Ko n struktion s fehler im »Gleitschuh« oder wie das Ding hieß, das der Tra m bahn den Strom zuleitete, sodass es nach ein paar Stunden Fahrt kaputt ging.) Ich war stolz, mich g e druckt zu sehen, aber ich kann nicht behaupten, dass es mich dazu inspirierte, eine literarische Karriere ins Auge zu fassen.
Ich fasste nur eines ins Auge: eine glückliche Ehe. Diesb e züglich hatte ich größtes Selbstvertrauen – wie meine sämtl i chen Freundinnen auch. Wir waren uns alle der Glückseligkeit bewusst, die uns erwartete, wir freuten uns auf die Liebe, fre u ten uns darauf, umsorgt, umhegt und bewundert zu werden, und hatten die feste A b sicht, in wichtigen Dingen unseren Kopf durchzusetzen, gleichzeitig aber auch das Leben, die Ka r riere und den Erfolg unserer Ehemänner – wie es unsere stolze Pflicht sein würde – vor allen anderen Dingen an die erste Stelle zu setzen. Wir brauchten weder Aufputsch- noch Beruh i gungsmittel, wir hatten Gla u ben und Lebensfreude. Wir erlebten unsere persönlichen Enttäuschu n gen, aber im Großen und Ganzen machte das Leben Spaß. Vielleicht macht es den Mädchen auch heute noch Spaß, aber sie sehen mir wah r haftig nicht danach aus. Vielleicht – ein passender Gedanke! – vie l leicht finden sie Gefallen an der M e lancholie, es gibt solche Leute. Vielleicht finden sie sogar an der Angst Gefallen. Denn das ist zweifellos ein Zeichen unserer Zeit: die Angst. Meinen Altersgenossi n nen ging es oft schlecht, und sie hatten nicht einmal ein Vie r tel der Dinge, die sie sich wünschten. Wie kam es dann, dass wir unser Dasein so genossen? War es eine Art Leben s saft, der in uns aufstieg und der jetzt versiegt ist?
Wir waren wie ungebärdige Pflanzen – vielleicht auch oft Unkraut –, aber wir ließen uns in unserem Wuchs nicht aufha l ten. Gewaltsam und an den ungünstigsten Stellen drängten wir uns durch Ritzen und Sprünge in Steinplatten und Straße n pflaster, entschlossen, uns am Leben satt zu essen. Wir drän g ten der Sonne entgegen, bis jemand kam und uns ni e dertrat. Wir mochten verletzt sein, aber bald hoben wir wieder die Kö p fe. Heutzutage scheint das Leben Unkrautvertilger zu versprühen (nach Bedarf!) – und wir können die Köpfe nicht mehr heben. Es soll Menschen geben, die kein »Recht auf Leben« h a ben. Uns hat nie jemand g e sagt, dass wir kein Recht auf Leben hätten. Hä t te es uns einer gesagt, wir würden es ihm nicht geglaubt haben. Nur ein Mörder besaß dieses Recht nicht. Heute ist ein Mörder der einzige, von dem man nicht sagen darf, er hätte sein Recht auf Leben ve r wirkt.
Das aufregend Schöne im Dasein eines Mädchens – e i ner Frau in i h rer embryonalen Phase – bestand darin, dass das Leben ein so wu n derbares Glücksspiel war. Man wusste nicht, was die Zukunft bringen würde. Man brauchte sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was man tun oder sein sollte – die Biologie würde das en t scheiden. Man wartete auf den Mann, und wenn dieser Mann kam, würde er das ganze Leben verändern. »Vie l leicht werde ich einen Diplomaten heir a ten… Ich glaube, das würde mir gefallen, zu reisen und fremde Länder kennen zu lernen…« Oder: »Einen Seemann würde ich nicht heiraten wollen; wir müssten an der Küste leben.« Oder: »Vielleicht heirate ich einen Brückenbauer oder e i nen Forscher.« Die ganze Welt stand dir offen – nicht dem, was deiner Wahl entsprechen mochte, sondern dem, was das Schicksal dir bri n gen würde. Alles war möglich: Es konnte sein, dass du einen Trunkenbold heiraten und sehr unglücklich werden würdest, aber das erhöhte nur noch das Gefühl erregender Spannung. Und man heirat e te ja auch nicht einen Beruf, sondern einen Mann. Wie die alten Kinderfrauen, Gouve r nanten, Köchinnen und Hausmädchen zu sagen pflegten: »Eines Tages kommt der Richtige.«
Ich war noch sehr klein, als die alte Hannah, Omas K ö chin, einer der hübscheren von Mutters Freundinnen einmal vor einem Ball beim A n ziehen half. »Also, Miss Phyllis«, sagte Hannah und machte sich daran, das enge Korsett zuzuschnüren, »stützen Sie sich ab und m a chen Sie das Kreuz hohl. Ich fange an zu ziehen. Halten Sie den Atem an.«
»Oh, Hannah,
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