Meine gute alte Zeit - Teil I
ich ertrage es nicht, es geht wirklich nicht. Ich kann nicht atmen.«
»Keine Bange, mein Schätzchen, Sie können wunderbar a t men. Sie werden nicht viel essen können, und das ist sehr gut, denn in der Öffen t lichkeit sollen junge Damen nicht große Mengen verzehren, das ist nicht fein. Sie müssen sich wie eine ric h tige junge Dame benehmen. Es geht schon. Ich hole mal das Messband. Na bitte – ach t undvierzig. Ich könnte Sie auf sechsundvierzig bri n gen…«
»Achtundvierzig reicht vollkommen«, keuchte das O p fer.
»Sie werden froh sein, wenn Sie einmal dort sind. Ste l len Sie sich doch einmal vor, heute Abend käme der Richtige. Würden Sie wollen, dass er Sie mit einer starken Taille sieht?«
Der Richtige. Man drückte es manchmal auch eleganter aus: »Der Mann, den das Schicksal dir bestimmt hat.«
»Eigentlich habe ich gar keine Lust, auf den Ball zu g e hen.«
»O doch, mein Schätzchen. Denken Sie nur! Sie kön n ten dem Mann begegnen, den das Schicksal Ihnen b e stimmt hat.«
Natürlich gab es immer Mädchen, die auf keinen Fall heiraten wollten, meist aus irgendwelchen edlen Bewe g gründen. Sie verspürten den Drang, Nonne zu werden oder Leprakranke zu pflegen, etwas Großartiges und B e deutendes zu tun, sich selbst aufzuopfern. Für viele war das eine Phase, die sie durchmachen mussten. Der gl ü hende Wunsch, Nonne zu werden, scheint bei protesta n tischen Mädchen weit beständiger zu sein als bei kathol i schen. Bei diesen handelt es sich zweife l los mehr um eine Berufswahl – um eine ganz normale Lebensform – die jedoch für eine Protestantin den Beigeschmack des relig i ösen Mystizismus besitzt und seltsam faszinierend auf sie wirkt. Auch der Beruf einer Kranke n schwester wurde als heroische Lebensaufgabe betrachtet, der das Ans e hen Miss Nightingales einen besonderen Glanz verlieh. Die Ehe aber stand im Mi t telpunkt aller Überlegungen; wen man heiraten würde, das war die Frage, die alle bewegte.
Mit dreizehn oder vierzehn Jahren hatte ich das Gefühl, meinen Freundinnen an Alter und Erfahrung ungeheuer weit voraus zu sein. Nicht länger sah ich mich von and e ren Me n schen beschützt. Ich war selbst zur Beschützerin geworden. Ich fühlte mich für meine Mutter verantwor t lich. Und ich ve r suchte, mich selbst zu erkennen: Was für eine Art Mensch war ich? Was konnte ich anpacken und mit Erfolg zu Ende führen? Für welche Dinge taugte ich und für welche nicht? Ich wusste, dass ich nicht im Sta n de war, rasche Entscheidungen zu tre f fen; ich brauchte Zeit, um ein Problem sorgfältig zu prüfen, bevor ich mir darüber klar war, wie ich mich damit auseina n dersetzen sollte.
Ich erkannte den Wert der Zeit. Das wunderbarste im Leben ist, Zeit zu haben. Ich glaube, die Menschen von heute haben nicht genug Zeit. Ich war in meiner Kindheit und in meiner Jugend so überaus glüc k lich, weil ich so viel Zeit hatte. Am Morgen schlug ich die Augen auf und fragte mich – noch b e vor ich richtig wach war: »Na, was soll ich mit dem heutigen Tag anfangen?« Man hatte die Wahl, der Tag war da, er lag vor einem, und man konnte ihn nach Herzenslust planen. Womit ich sagen will, dass es nicht auch eine Menge Dinge gab, die ich zu tun hatte (Pflichten, nannten wir sie) – natürlich gab es sie. Im Hause waren Arbeiten zu verrichten: Silberrahmen mus s ten geputzt, Strümpfe gestopft werden. An manchen T a gen las ich ein Kapitel aus Große Ereignisse der Geschichte, an anderen ging ich in die Stadt, um die Rechnungen unserer Lieferanten zu begleichen. Es hieß Briefe schreiben und Ei n tragungen machen, Klavier üben oder sticken – aber ich konnte mir alle diese Dinge so einteilen, wie ich wol l te. Ich konnte meinen Tag planen, ich konnte sagen: »Die Strümpfe stopfe ich erst nachmittags; vormittags gehe ich in die Stadt und nehme den Rückweg durch die andere Straße, um nachzus e hen, ob jener Baum schon in Blüte steht.«
Beim Erwachen überkam mich stets ein Gefühl, ein doch gewiss für a l le natürliches Gefühl – die Freude, am Leben zu sein. Ich will nicht s a gen, dass man es bewusst empfindet – das ist nicht der Fall –, aber man ist da, man lebt, man schlägt die Augen auf, und ein neuer Tag ist a n gebrochen. Ein neuer Schritt ist zu tun auf dem Weg an einen unbekan n ten Ort, auf jenem faszinierenden Weg, der unser Leben ist.
Nicht jeder Tag ist unbedingt auch ein erfreulicher Tag. Nach dem er s ten köstlichen Gefühl des »Ein neuer Tag! Wie
Weitere Kostenlose Bücher