Meine gute alte Zeit - Teil I
mit dem Wa s serspiegel auf gleicher Höhe. Man stieg die Stufen hinu n ter und begann zu schwimmen. Nicht zu weit draußen lag ein Floß, zu dem man hinausschwimmen, sich hinaufzi e hen und darauf sitzen konnte. Bei E b be war es ganz nah, bei Flut jedoch zie m lich weit weg – aber dafür hatte man es praktisch für sich allein.
So etwas wie Sonnenbaden am Strand gab es natürlich nicht. Hatte man sein Bad beendet, begab man sich in die Badem a schine, wurde ebenso ruckweise hinaufgezogen, wie man heruntergelassen worden war, und kam schlie ß lich blau im Gesicht, mit klappernden Zähnen und g e fühllosen Händen und Wangen wieder zum Vorschein. Mir persönlich, das muss ich sagen, hat das nie geschadet, und nach etwa einer dreiviertel Stunde war mir wieder herrlich warm. Ich saß am Strand und verzehrte ein K o rinthenbrötchen, während mir über mein schlechtes Betragen – weil ich nicht schon früher herausg e kommen war – Vorhaltungen gemacht wurden. Oma, die i m mer eine Anzahl abschreckender Beispiele auf Lager hatte, erzählte mir, wie Mrs Fox’ kleiner Junge (»so ein reize n der Knabe!«) an Lungenentzündung gestorben war, weil er nicht gehorcht und sich zu lange im Wasser aufgeha l ten hatte. An meinem K o rinthenbrötchen kauend, oder was es sonst war, woran ich mich labte, antwortete ich pflichtschuldig: »Nein, Oma, nächstes Mal bleib ich b e stimmt nicht so lange im Wa s ser. Aber es war wirklich sehr warm.«
»So, so, sehr warm? Warum zitterst du dann am ganzen Körper? W a rum sind deine Finger so blau?«
Der Vorteil, sich von einem Erwachsenen, insbesond e re von Oma, b e gleiten zu lassen, lag darin, dass wir am Strand einen Wagen na h men und ich nicht zweieinhalb Kilometer zu Fuß laufen musste. Das Haus des Torbay Yacht Clubs stand auf der Beacon Terrace genau obe r halb des Damenbadeplatzes. Von dort aus war zwar nicht der Strand selbst, wohl aber das Floß und seine Umg e bung zu sehen, und wie Vater berichtete, ve r brachten nicht wenige Herren ihre Zeit damit, mit Ferngläsern den Anblick weiblicher Gestalten zu genießen, von denen sie fälschlicherweise annahmen, sie in einem Zustand von Nah e zu-Nacktheit bewundern zu können. Ich kann mir alle r dings nicht vorstellen, dass wir in diesen formlosen Kleidungsst ü cken besonders viel Sexappeal ausstrahlten!
Der Badeplatz für Herren lag ein Stück weiter die Küste hi n auf.
Dort konnten sich die Herren in ihren knappen Dre i eckh o sen nach Herzenslust vergnügen, ohne fürchten zu müssen, von weiblichen A u gen beobachtet zu werden. Aber die Zeiten änderten sich: In ganz England kam das Familienbad auf.
Das gemeinsame Baden beider Geschlechter hatte z u nächst zur Fo l ge, dass die Damen noch mehr anziehen mussten. Selbst die Franz ö sinnen hatten immer in Strümpfen gebadet, um keine sündhaft bloßen Beine in der Öffentlichkeit sehen zu lassen. Mit ihrem natürlichen französischen Chic verstanden sie es zweifellos, sich vom Hals bis zu den Handgele n ken zu bedecken – dank der feinen Strümpfe, die die eleganten Fo r men ihrer schönen Beine deutlich hervortreten ließen, sahen sie weit verl o ckender und sündhafter aus, als wenn sie das gute alte britische Badekostüm aus gefältelter Alpakawolle mit ku r zem Rock getragen hätten. Ich weiß wirklich nicht, warum Beine für so anstößig gehalten wurden. Der ganze Dickens ist voll von entsetzten Aufschreien, wenn eine Dame fürchten muss, ein Mann hätte ihre Fußknöchel zu Gesicht bekommen. Die bloße Erwähnung des Wortes war verpönt. Schon das erste Ki n dermädchen trichterte einem ein, wenn man auf diese Teile seiner An a tomie zu sprechen kam: »Vergiss nicht, die Königin von Spanien hat keine Beine.« – »Was hat sie statt dessen, Nursie?« – »Glieder, Schätzchen, wir nennen Arme und Beine Gli e der.«
Aber es klingt schon recht albern, wenn man sagen müsste: »Ich bekomme da einen Fleck auf einem meiner Glieder, u n terhalb des Knies.«
Bis zu der Zeit, als ich zum ersten Mal heiratete, blieben die Badeanz ü ge sehr züchtig. Zwar war das gemeinsame Baden damals schon allgemein üblich, aber ältere Damen und konservativere Familien betracht e ten es immer noch als anstößig. Doch der Fortschritt ließ sich nicht aufha l ten, das sah selbst meine Mutter ein. Wir gingen oft am Strand spazi e ren, wo beide Geschlechter sich im Wasser tummeln durften. Tor A b bey Sands und Corbin’s Head, die belie b testen Strände der Stadt, waren die
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