Meine gute alte Zeit - Teil I
kurze, unregelmäßige Wellenschl ä ge –, und mit der zusätzlichen Last auf meinen Schultern war es mir fast unmöglich, Mund und Nase über Wasser zu halten. Ich schwamm, aber ich bekam nicht genügend Luft. Die Flut war noch weit draußen und das Floß daher n a he, aber ich kam nur sehr langsam voran und konnte nur bei jedem dri t ten Armzug Atem holen.
Plötzlich wurde mir klar, dass ich es nicht schaffen würde. Ich fürchtete, im nächsten Augenblick zu erst i cken. »Jack«, keuchte ich, »lass mich los und schwimm allein zum Floß. Es ist näher als das Ufer.« – »W a rum?«, fragte Jack. »Ich will nicht.« – »Bitte…«, gurgelte ich. Mein Kopf sank unter Wasser, und obwohl Jack sich a n fangs an mir festklammerte, gelang es mir doch noch, ihn abzuschütteln, sodass er allein weite r schwimmen musste. Wir waren dem Floß schon ziemlich nahe, und er erreic h te es auch ohne Schwierigkeiten. Aber ich wusste bereits nicht mehr, was um mich herum geschah. Ein einziges Gefühl überkam mich: ein Gefühl tiefer Empörung. Man hatte mir zu wiederholten Malen versichert, dass das ga n ze Leben an einem vo r beizog, wenn man ertrank, und dass man herrliche Musik hörte, wenn man starb. Weder hörte ich herrliche Musik noch wurde die Verga n genheit lebendig; Tatsache ist, dass ich an nichts anderes denken konnte, als dass es irgendwie geli n gen musste, Luft in meine Lungen zu beko m men. Mir wurde schwarz vor Augen und… und… und dann gab es nur Schmerzen und Beulen, als ich ohne viel Federlesens in ein Boot g e worfen wurde. Der alte Seebär, in unseren Augen stets nur ein unnützer Spinner, hatte sogleich gemerkt, dass da j e mand ertrank, und war in das Boot gesprungen, das ihm zu diesem Zweck zur Verfügung stand. Nachdem er mich ins Boot gewo r fen hatte, ruderte er zum Floß und packte Jack, der lautstark Widerstand leistete: »Ich will noch nicht wieder an Land. Ich bin gerade erst geko m men. Ich will hier auf dem Floß spielen. Ich komme nicht mit!« Das voll besetzte Boot e r reichte das Ufer, und meine Schwester kam lachend den Strand heruntergelaufen. »Was habt ihr denn getrieben?«, fra g te sie.
»Ihre Schwester wäre beinahe ertrunken«, erwiderte mürrisch der Alte. »Na los, nehmen Sie Ihr Kind. Das Mädel legen wir flach auf den R ü cken. Mal sehen, ob wir sie beatmen müssen.«
Ich nehme an, dass er mich ein wenig »beatmete«, o b wohl ich eigen t lich nicht glaube, dass ich das Bewusstsein verloren hatte.
»Woher wussten Sie, dass sie am Ertrinken war? Warum hat sie nicht um Hilfe geschrien?«
»Ich pass eben auf. Wenn man untergeht, kann man nicht schreien. Sonst schluckt man Wasser.«
Nach diesem Zwischenfall hatten wir beide eine sehr hohe Meinung von dem alten Seebären.
Die Außenwelt bedrängte uns weit weniger als zu V a ters Ze i ten. Ich hatte meine Freundinnen, und Mutter hatte ein oder zwei vertraute Freundinnen, mit denen sie Ko n takt hielt, aber gesellschaftlichen Ve r kehr gab es kaum noch. Mutter hatte schwer zu kämpfen: Sie konnte kein Geld für gesellschaftliche Verpflichtungen erübrigen, ja nicht einmal für Taxifahrten, um Einladungen zu Mi t tag- oder Abendessen anzune h men. Sie war nie gut zu Fuß gewesen, und jetzt, mit ihren Herzattacken, ging sie nur wenig aus, weil man ja in Torquay nirgends hi n kam, ohne bergauf und bergab gehen zu müssen. Im Sommer b e suchte ich den Strand, im Winter fuhr ich Rollschuh. Ich hatte Unmengen von Büchern zu lesen, wobei ich natü r lich ständig neue En t deckungen machte. Mutter las mir Dickens vor, und wir genossen es beide.
Das Vorlesen begann eigentlich mit Sir Walter Scott. Eine meiner Lieblingsromanzen war Der Talisman. Ich las auch Marmion und Die Dame vom See, aber ich glaube, Mu t ter und ich waren sehr froh, als wir von Sir Wa l ter Scott auf Dickens übergingen. Ungeduldig wie immer zögerte Mutter nicht, etwas zu überspringen, wenn es ihr so pas s te. »Alle diese langatm i gen Beschreibungen«, kritisierte sie ma n che Passagen bei Sir Walter Scott. »Sie sind natürlich sehr gut, aber man bekommt sie leicht über.«
Unser erster Dickens war Nicholas Nickleby, und meine Lieblingsf i gur war der alte Herr, der Mrs Nickleby den Hof machte, indem er ihr Eie r kürbisse über die Mauer warf. Kann dies einer der Gründe sein, warum ich Herc u le Poirot in Pension schic k te, um Eierkürbisse zu ziehen? Wer weiß? Am besten von allen Dickens-Romanen gefiel mir Bleakhaus, und das ist auch heute
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