Meine gute alte Zeit - Teil I
nächsten Tag übel? Ha t te ich Ga l lenbeschwerden? Nicht die Spur. Beschwerden hatte ich im September, wenn ich unreife Äpfel aß. U n reife Äpfel aß ich praktisch täglich, aber gelegentlich tat ich wohl des Guten zu viel.
Ich erinnere mich noch, welch ein Theater ich auffüh r te, als ich sechs oder sieben war und Pilze gegessen hatte. Um elf Uhr nachts wachte ich mit Schmerzen auf und stürzte in den Salon hinunter, wo meine Eltern mit Freunden zusammensaßen, und verkündete in dramat i schem Ton: »Ich werde sterben! Ich habe mich mit Pilzen vergiftet!« Mutter beruhi g te mich schnell, gab mir ein paar Schluck Brec h wurzwein zu trinken – der in jenen Tagen in allen Medizinkästchen zu finden war – und vers i cherte mir, dass ich heute noch nicht sterben würde.
Jedenfalls erinnere ich mich nicht, zu Weihnachten j e mals krank gew e sen zu sein. Mit Nan Watts war es das Gleiche, sie hatte einen unverwüstlichen Magen. Und wenn ich so zurüc k denke, muss ich sagen, dass damals alle Leute recht gute M ä gen hatten. Ich nehme an, dass manche Menschen Magen- oder Zwölffingerdarmg e schwüre hatten und aufpassen mus s ten, aber ich kann mich nicht erinnern, dass einer nur von Fisch oder Milch gelebt hätte. Eine bäurische, gefräßige Zeit? Ja, aber auch eine Zeit des Lebensgenusses und der Leben s freude. Wenn ich bedenke, was ich in meiner Jugend gefuttert habe – denn ich war immer hungrig –, kann ich einfach nicht verstehen, wie ich es schaffte, so mager zu bleiben – eine ric h tige Hopfenstange.
Nach der wohltuenden Untätigkeit des Weihnacht s nachmittags – Untätigkeit für die Älteren; die Jungen l a sen, besahen sich ihre Geschenke, knabberten Schokol a de – gab es einen herrlichen Tee mit einer großen, mit Zuckerglasur überzog e nen Weihnachtstorte und alles mögliche dazu, und ein Abendessen bestehend aus ka l tem Truthahn und heißen Fleischpast e ten. Gegen neun Uhr wurde der Weihnachtsbaum angezü n det, an dem noch mehr G e schenke hingen. Ein wunderbarer Tag, an den man sich noch lange zurückerinnerte – bis zum nächsten Weihnacht s fest.
Auch während des Jahres kam ich mit Mutter nach A b ney Hall, und es war immer wunderschön. Im Garten, unter der Auffahrt, gab es einen Tunnel, der mir für das historische Drama, das ich gerade im Geiste über die Bühne gehen ließ, von großem Nutzen war. Gestikuli e rend stolzierte ich dort herum und murmelte vor mich hin. Sicherlich dachten die Gärtner, ich wäre nicht ganz normal, aber ich versuchte nur, mich in meine Rolle hi n einzuversetzen. Es kam mir nie in den Sinn, etwas aufz u schreiben – und was die Gärtner von mir dachten, int e ressierte mich herzlich wenig. Gelegentlich spazi e re ich auch heute noch in der Gegend herum und murmle vor mich hin – wobei ich versuche, ein Kapitel, das nicht so recht vorangeht, »hinzukri e gen«.
Meine schöpferischen Kräfte entfaltete ich auch bei S o faki s sen, die damals weit verbreitet waren. Daher waren bestickte Kissenüberzüge stets willkommen. In den Herbstmonaten war ich mit Feuereifer beim Sticken. A n fangs pflegte ich Abzie h bilder zu kaufen, übertrug sie mit einem heißen Bügeleisen auf Satin und stickte dann mit Seide nach. Sp ä ter kam ich von den Abziehbildern ab, weil es immer die gleichen Motive waren, und ich fing an, Blumenbilder von Porzellan zu kopieren. Wir hatten ein i ge große Berliner- und Dresdnervasen mit wundersch ö nen Blumensträußen darauf; ich pauste sie ab, übertrug sie auf Satin und versuchte die Farben so getreu wie mö g lich nachzuahmen. Oma B. war sehr froh, als sie davon hörte; sie hatte in ihrem Leben so viel gestickt, dass ihr der Gedanke, eine Enkelin folge ihr auf diesem Wege, große Freude machte. Ihre eig e ne Kunstfertigkeit erlangte ich allerdings nicht, ich konnte nie so perfekt Landscha f ten und Figuren sticken wie sie. Ich besitze zwei Ofe n schirme von ihr, beide exquisit gea r beitet: einen mit einer Schäferin, einen anderen mit einem Sch ä ferpaar unter einem Baum, in dessen Rinde sie ein Herz schnitzen. Wie befriedigend muss doch diese Beschäftigung an den la n gen Wi n terabenden für die großen Damen zur Zeit der Wandteppiche von B a yeux gewesen sein!
Mr Watts, Jimmys Vater, war ein Mensch, in dessen Gege n wart mich eine seltsame Scheu befiel. Er pflegte mich »Trau m kind« zu nennen – ich wand mich jedes Mal vor Verlegenheit. »Woran denkt jetzt unser Traumkind?«, pflegte er zu sagen. Ich
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