Meine gute alte Zeit - Teil I
den wird. Du gibst dich Vorstellungen hin wie etwa: »Wenn das und das geschehen wäre, würde ich so und so g e handelt haben.« Oder: »Wenn ich den und den geheiratet hätte, würde ich wohl ein völlig anderes Leben geführt haben.« Doch irgendwie findet man immer zu seinem eigenen Lebensweg, denn ich bin sicher, dass jeder einer so l chen Lebensordnung unterworfen ist. Es ist der Zuschnitt unseres L e bens.
Ich nehme nicht an, dass ich Miss Guyers Schule länger als eineinhalb Jahre besuchte; dann hatte Mutter wieder eine andere Idee. Mit der gewohnten Plötzlichkeit eröf f nete sie mir, dass wir nach Paris fahren würden. Sie wü r de Ashfield während des Winters vermieten. Vielleicht kön n te ich im selben Pensionat anfangen, in dem auch meine Schwester gewesen war.
Es verlief alles nach Plan; auf Mutters Dispositionen konnte man sich verlassen. Sie traf ihre Vorbereitungen mit äußerster Sorgfalt und nötigte aller Welt ihren Willen auf. Sie fand einen ausgezeichneten Mieter, wir packten unsere Koffer (ich weiß nicht, ob es auch so viele run d deckelige Ungeheuer waren wie damals, als wir nach Sü d frankreich reisten, aber eine erkleckl i che Anzahl wird es schon gewesen sein), und schon wenige Tage später w a ren wir im Hotel d’Iéna in der Avenue d’Iéna in Paris einquartiert.
Mutter kam mit einem ganzen Korb voll Empfehlung s briefen und A d ressen verschiedener Pensionate und Schulen sowie Lehrer und Lehr e rinnen aller Kategorien angereist. Sie erfuhr, dass es mit Madges Pensionat ber g ab ging – Mademoiselle T. hatte das Interesse verloren oder spielte mit dem Gedanken, die Schule zu schließen – und meinte, man könnte es ja einmal versuchen, man würde sehen. Heute würde man diese Einste l lung zu einer Bi l dungsstätte wohl kaum gutheißen, aber Mutter fand nichts dabei, eine Schule auszuprobieren, wie man ein Restaurant ausprobiert. Hineinschauen allein genügt nicht, man muss es ausprobi e ren.
Ich fing bei Mademoiselle T. an und blieb zwei Monate bis zum E n de des Semesters in ihrem Pensionat. Ich war fünfzehn Jahre alt. Me i ne Schwester hatte sich gleich nach ihrer Ankunft hervorgetan, als eine Mitschülerin ihr eine Mutprobe abve r langte: Sie sollte aus einem Fenster springen. Sie sprang – und landete mitten auf einem Te e tisch, um den herum Mademoiselle T. mit einigen ehre n werten Elternpaaren saß. »Was sind das bloß für ungez o gene Gören, diese englischen Mädchen!«, rief Mademo i selle T höchst verärgert. Die Mädchen, die Madge ang e spornt hatten, grinsten boshaft, aber sie bewunderten sie wegen ihrer Tat.
Mein Einzug war alles andere als sensationell. Ich war ein kleines Mäuschen, und schon am dritten Tag hatte ich schreckliches Hei m weh. In den vergangenen vier oder fünf Jahren hatte ich mich eng an Mutter angeschlossen und war kaum von ihrer Seite gewichen. Es war daher ganz natürlich, dass ich Heimweh bekam, als ich das erste Mal die gewohnte Umgebung vermissen musste. Selts a merweise wusste ich nicht, was mit mir los war. Ich hatte einfach keinen Appetit. Immer wenn ich an Mutter dac h te, kamen mir Tränen in die Augen. Ich erinnere mich, dass ich eine Bluse betrachtete, die Mutter mit eigenen Händen – mehr schlecht als recht – geschneidert hatte. Die Tatsache, dass sie schlecht gemacht war, dass sie nicht passte, dass die Biesen ungleichmäßig abg e näht waren, ließ meine Tränen nur noch reichl i cher fließen. Es gelang mir, meine Gefühle vor den anderen zu ve r bergen, und ich weinte nur nachts in mein Kissen. Als Mutter mich am nächsten Sonntag abholen kam, begrüßte ich sie wie gewöhnlich, aber im Hotel schlang ich meine Arme um ihren Hals und brach in Tränen aus. Es freut mich, sagen zu können, dass ich sie nicht bat, mich fortzune h men; mir war klar, dass ich nicht so weit gehen durfte. Außerdem war ich, nachdem ich Mutter g e sehen hatte, ziemlich sicher, dass ich in Zukunft vom Heimweh ve r schont bleiben würde; ich wusste jetzt, was mit mir los war.
Und nun begann ich meine Tage bei Mademoiselle T zu g e nießen. Meine Mitschülerinnen waren Französinnen, Amerikanerinnen, recht viele Italienerinnen und Spani e rinnen – und wenig Engländerinnen. Mit den Amerikan e rinnen fühlte ich mich am wohlsten. Sie hatten eine so erfrischende, unterhal t same Art und erinnerten mich an Ma r guerite Prestley, meine Freundin aus Cauterets.
Was die Arbeit angeht, kann ich mich kaum noch eri n nern – ich glaube aber
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