Meine gute alte Zeit - Teil I
die verhasste Zeichen- und Malstunde erspart. Aber ich vermisste meine Besuche auf dem Bl u menmarkt, die mir viel Freude gemacht hatten. Ich war daher auch nicht überrascht, als Mutter mir am Ende der Sommerferien, die ich in To r quay verlebte, eröffnete, dass ich nicht nach »Les Marroniers« zurückkehren wü r de. Sie hatte eine neue Idee für meine Erzi e hung.
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Omas Arzt Dr. Burwood hatte eine Schwägerin, die in Paris ein kleines Institut leitete, in dem Mädchen »ausg e bildet« wurden. Sie nahm nur zwölf bis fünfzehn Mä d chen auf, die alle Musik studierten oder Vorl e sungen am Konservatorium oder an der Sorbonne besuc h ten. Ob ich mich damit befreunden könnte, wollte Mutter wissen. Nun, neue Ideen waren mir immer willkommen. »Man muss alles einmal versuchen«, hätte damals schon mein Motto sein können. So kam ich also im Herbst zu Miss Dryden in die Avenue du Bois in nächster Nähe des Arc de Tr i omphe.
Bei Miss Dryden gefiel es mir ausgezeichnet. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass hier sinnvoll gearbeitet wurde. Wir waren zwölf Mä d chen. Miss Dryden war groß gewachsen und zäh. Sie hatte wunderbar gepflegtes we i ßes Haar, eine sehr gute schlanke Figur und eine rote N a se, die sie heftig zu reiben pflegte, wenn sie zornig war. Sie sprach in einem trockenen und ironischen Ton, der gleichzeitig beu n ruhigte und anregte. Ihr zur Seite stand eine französische Assistentin, Madame P e tit. Madame Petit war durch und durch Französin, temper a mentvoll, sehr gefühlsbetont und ungewöhnlich unfair. Wir waren ihr alle zugetan, ha t ten aber nicht den Respekt vor ihr, den wir vor Miss Dryden hatten.
Natürlich lebten wir mehr wie eine Familie zusammen, doch was das Studium anging, nahmen die Damen eine strikte Haltung ein. Musik ha t te Vorrang, aber wir hatten eine Menge interessanter Fächer der ve r schiedensten Art. Mitglieder der Comédie Francaise hielten uns Vorträge über Molière, Racine und Corneille, Sänger vom Konse r vatorium sangen für uns Lieder von Lully und Gluck. Es gab einen Schauspielkurs, in dem wir alle die Kunst der Deklamation lernten. Glückliche r weise hatten wir nicht so viele dictées, sodass meine mangelhaften orthograf i schen Kenntnisse weniger auffielen. Da mein gesproch e nes Französisch besser war als das der anderen, b e reitete es mir großes Vergnügen, in die Rolle der tragischen He l din zu schlü p fen und aus Andromaque zu rezitieren: »Seigneur, toutes ces gra n deurs ne me touchent plus guère.«
Ich glaube, der Schauspielkurs machte uns allen Freude. Wir besuchten die Comédie Francaise und sahen die kla s sischen Dramen, aber auch mehrere moderne Stücke. Ich sah Sarah Bernhardt in einer ihrer letzten großen Rollen. Sie war zwar alt, lahm und schwächlich, aber immer noch eine große Schauspi e lerin. Noch aufregender als Sarah Bernhardt fand ich die Réjane. Ich sah sie in einem m o dernen Stück, La Course aux Fla m beaux. Wenn ich eine kleine Weile still sitze und die Augen schließe, höre ich noch ihre Stimme und sehe noch ihr G e sicht, als sie die letzten Wo r te des Stückes sprach: »Pour sauver ma fille, j’ai tué ma mère«, und ich fühle noch den kalten Schauer, der mir bei dem Gedanken über den Rücken lief, dass man seine eigene Mutter töten konnte.
Unterricht, will mir scheinen, kann nur befriedigen, wenn er Wide r hall findet. Informationen allein genügen nicht, sie geben dem Schüler nichts Neues. Zu uns aber sprachen Schauspielerinnen über ihre Rollen, richt i ge Sänger sangen Bois Epais oder eine Arie aus Glucks Orfeo und erweckten so in unserem Herzen eine leidenschaftl i che Liebe zu den Kunstwe r ken, die sie uns darboten. Sie erschlossen uns eine neue Welt, eine Welt, die nie aufhö r te, mich stets von Neuem zu fa s zinieren.
Ich selbst konzentrierte mein Studium natürlich auf Musik, Gesang und Klavier. Klavier studierte ich mit e i nem Österreicher, Charles Fürster. Er kam hin und wi e der auch nach Lo n don, um dort Konzerte zu geben. Er war ein guter, aber auch ein furchteinflößender Lehrer. Seine Methode bestand darin, dass er im Zimmer he r umwanderte, wä h rend man spielte. Er tat, als ob er gar nicht zuhörte, sah aus dem Fenster, roch an einer Blume, aber wenn man eine falsche Note spielte oder schlecht phrasierte, wirbelte er plötzlich mit der Behändigkeit e i nes fa u chenden Tigers herum: »Hein, qu’est-ce que vous jouez là, petite, hein? C’est atroce!«
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