Meine gute alte Zeit - Teil I
Anfangs ging diese überfallart i ge Kritik an die Nerven, aber mit der Zeit gewöhnte man sich daran. Er war ein großer Bewunderer Chopins, und so lernte ich haup t sächlich Chopins Etüden und Walzer, die Fantaisie Impromptue und eine der Balladen. Ich wusste, dass ich unter seiner Anle i tung gut vorankam, und das machte mich glücklich. Ich lernte die Sonaten von Bee t hoven, aber auch Stücke, die er als »Salonmusik« klassif i zierte, eine Romanze von Fauré, die Barkar o le von Tschaikowski und andere. Ich übte wirklich sehr fleißig, oft sieben bis acht Stunden im Tag. Ich glaube, dass eine wilde Hoffnung in mir aufstieg – mag sein, dass sie mir gar nicht zu Bewusstsein kam, aber sie hielt sich hartn ä ckig im Hintergrund – dass ich vielleicht Pianistin werden und Konzerte g e ben könnte. Es würde lange dauern, und ich würde hart arbeiten müssen, aber ich wusste, dass ich gute Fortschritte machte.
Mit den Gesangstunden hatte ich schon früher bego n nen. Mein Le h rer war ein gewisser Monsieur Boué. Von ihm und Jean de Reszke hieß es zu jener Zeit, dass sie die besten G e sanglehrer in Paris wären. Jean de Reszke war ein berühmter Tenor gewesen und Boué ein Opernbar i ton. Er wohnte im fünften Stock eines Mietshauses ohne Lift. Ich kam jedes Mal außer Atem im fünften Stock an, was ja nur natürlich war. Die Wohntüren sahen so gleich aus, dass ich nie wusste, wie viele Stockwerke ich schon erklommen hatte, aber an der Tapete im Treppenhaus erkannte ich, dass ich bei Monsieur Boué gela n det war – der riesige Fettfleck neben der Tür, der an den Kopf e i nes Cairnterriers erinnerte, war unverken n bar.
Kaum war ich eingetreten, überschüttete er mich mit Vo r würfen. Was mir nur einfiel, dass ich so rasch atmete? Warum musste ich a u ßer Atem sein? Ein junges Mädchen sollte die Treppe heraufspringen, ohne zu keuchen. Mit der Atmung fing alles an. »Singen ist eine Frage des Atems, das sollten Sie jetzt schon wissen.« Dann langte er nach einem Maßband, das er immer zur Hand hatte. Er legte es mir um das Zwerchfell und forderte mich auf, einzuatmen, die Luft anzuhalten und dann so vol l ständig wie möglich wieder auszuatmen. Er rechnete sich die Differenz zwischen den beiden Maßen aus, nickte hin und wieder und meinte schließlich: » C’est bien, c’est bien, es wird schon besser. Sie haben eine gute Brust, eine ausg e zeichnete Brust. Sie h a ben eine herrliche Weite, und noch etwas will ich Ihnen sagen: Sie werden nie die Schwin d sucht haben. Für manche Sänger ist es eine schreckliche Sache; sie bekommen Schwindsucht, aber Ihnen wird das nicht passieren. Solange Sie Ihre Atemübungen machen, wird alles gut gehen. Essen Sie gerne Steaks?« – »Ja«, an t wortete ich, »ich esse sehr gern Steaks.« – »Das ist auch gut; das ist die beste Ernährung für einen Sänger. Sie können keine großen Mah l zeiten zu sich nehmen, und Sie können auch nicht oft essen. Ich sage es me i nen Sängern immer wieder: um drei Uhr nachmittags ein gr o ßes Steak und ein Glas Porterbier und dann nichts mehr bis nach der Vo r stellung.«
Und nun fing die eigentliche Gesangstunde an. Die voix de tête, sa g te er, wäre sehr gut, perfekt und natürlich, und der Brustton gar nicht schlecht; aber das medium, das med i um wäre äußerst schwach. Also musste ich damit anfa n gen, Mezzoso p ran zu singen, um die mittlere Lage zu entw i ckeln. Hin und wieder machte er seinem Ärger über mein »englisches Gesicht« Luft. »Englische Gesichter«, sagte er, »haben keinen Ausdruck! Sie sind u n beweglich. Die Partie um den Mund herum bewegt sich nicht; die Stimme, die Worte, alles sitzt viel zu sehr im Keh l kopf. Das ist sehr schlecht. Die französische Sprache muss aus dem Gaumen kommen. Sie sprechen sehr gut Franz ö sisch, sehr flüssig. Nur sch a de, dass Sie keinen englischen Akzent haben, sondern den des Midi. Woher haben Sie den eigen t lich?«
Ich überlegte kurz und erklärte ihm dann, dass ich die Spr a che von einer jungen Frau gelernt hatte, die aus Pau geko m men war.
»Ich verstehe«, gab er sich zufrieden. »Ja, das wird es wohl sein. Wie gesagt, Sie sprechen fließend Französisch, aber Sie sprechen es, als ob es Englisch wäre. Sie gurgeln. Sie müssen die Lippen bewegen. Halten Sie die Zähne geschlossen und bewegen Sie die Lippen. Ah, ich weiß, was wir machen we r den.«
Er wies mich an, mir einen Bleistift in einen Mundwi n kel zu stecken und während des Singens so
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