Meine letzte Stunde
bleiben: die Furcht vor dem Leben und die Furcht vor dem Tod. Um diesen Gedanken ertragen zu können, müssen wir ihn so weit wie möglich aus unserem Bewusstsein verdrängen, ja wir müssen verrückt sein, wie Pascal sagt: „Die Menschen sind so notwendig verrückt, denn wären sie es nicht, dann wäre das nur eine andere Art von Verrücktheit.“ Eine Möglichkeit, mit dem Tod umzugehen, ist, mit ihm zu spielen, auf der Bühne und im Leben.
Ben Becker – der Tod, der auf dem Seil tanzt
„Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ von Hugo von Hofmannsthal schafft es seit 90 Jahren, den Menschen am Salzburger Domplatz einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen. Spätestens wenn sich der Schatten der Abendsonne langsam über den Platz wirft und Jedermann auf der Bühne immer mehr mit den dunklen Seiten seines Lebens konfrontiert wird, entfaltet die geniale Inszenierungsidee von Max Reinhardt ihre volle Wirkung. Im August 2009 spielte Ben Becker das erste Mal die Rolle des Todes. Jener Schauspieler, der genau zwei Jahre davor nach dem Konsum harter Drogen morgens leblos in seiner Wohnung aufgefunden und in letzter Sekunde von einem Notarzt wiederbelebt werden konnte. Was denkt Ben Becker über Jedermann, den Tod auf der Bühne und den wirklichen Tod? [5]
„,Jedermann‘ ist pures Kasperletheater. Aber erstaunlicherweise holt einen genau dieses Kasperletheater ein. Kinder schreien und haben Angst um den Kasper, wenn das Krokodil kommt. Genau das Gleiche passiert in diesem Stück mit Erwachsenen, und es funktioniert. Es packt uns, weil es um die ganz einfachen Dinge des Lebens geht: die guten Werke oder der Mammon. Und zwangsläufig fängt man dann an, über sein eigenes Leben zu reflektieren, gerade weil es so naiv ist. Der ‚Jedermann‘ ist nicht kaputtzukriegen. Wenn ich durch Salzburg gehe, kommt für mich natürlich noch dazu, dass dann alle rufen: ‚Schau, da kommt der Tod!‘, und zücken schon ihre Handykameras. Salzburg hat an sich etwas sehr Beklemmendes. Da will ich mir manchmal nur ein Brötchen kaufen und die Leute schreien: ‚Da ist der Tod!‘“
„Wie haben Sie sich auf den Tod vorbereitet?“, frage ich Ben Becker doppeldeutig. „Gar nicht, ich habe ihn schon einmal weggeballert“, spielt er darauf an, dass er dem Tod bereits einmal ganz knapp entgangen ist. „Ich bin mit viel Spaß an diese Rolle herangegangen und dann hat sie mich auf einmal selbst eingeholt. Für mich war es ein großes Problem, dass der Tod so lange alleine auf der Bühne stehen muss und nichts sagen darf. Da fühlte ich mich total verloren. Das ist so ein kaltes Nichts, dieser Tod, wie ein Schreckgespenst in der Ecke, wenn ich nur als Behauptung dastehe, das war schon sehr merkwürdig. Ich schneide da sämtliche Verbindungen zum Weltlichen durch, da bin ich als Schauspieler nicht abgebrüht genug dazu, mir nur zu denken, ich sehe ohnehin scheiße genug aus, brauche nur herumstehen und gar nicht zu spielen. Das trägt mich davon, da habe ich einfach keinen Halt mehr. In dem Augenblick, in dem ich mit dem Jedermann kommunizieren konnte, war da etwas zum Festhalten. Zu sagen: ‚Dich hole ich jetzt‘, das hatte etwas Menschliches und meine Beklemmung war wie weggeblasen. Da bin ich schon sehr nahe am Tod dran.“
Und wer ist der echte Ben Becker? „Ich bin ein Seiltänzer. Ich bin dafür bekannt, dass ich schon oft auf dem Seil getanzt habe und einmal fast runtergefallen bin. Mit allem was ich tue, gehe ich sehr nahe an die Grenze. Das ist natürlich manchmal ein gefährliches Spiel, vor allem wenn man es nicht nur auf der Bühne treibt. An dem Tag, wo mir mein Absturz passiert ist, habe ich das ganz klar übertrieben. [6] Ich habe ja nicht gesagt: ‚Ich will das jetzt‘, aber es war mir einfach scheißegal. Hätte man mir in dem Moment gesagt, ich solle vom Dach springen, dann hätte ich das auch gemacht. Das war eine Art Nahtod-Erlebnis, wobei den weißen Tunnel habe ich nicht gesehen. Es war eine totale Finsternis und ich schwebte darin wie im Mutterleib. Es war unendlicher Frieden und Ruhe. Ich kann mich nur an den letzten Satz erinnern, den ich bei Bewusstsein gesagt habe: ‚Hui, das ballert aber.‘ Das Blackout, das dann folgte, war eine Art von Geborgenheit. Ich habe seitdem für mich ganz persönlich eigentlich keine Angst mehr vor dem Tod. Es ist wie Schlafen. Die einzige Angst, die ich habe, ist eine Verlustangst. Das Schlimme, wenn man aufwacht, ist ja das, was man anderen Menschen
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