Meine letzte Stunde
einer Gesellschaft, die den Tod tabuisiert, hält man die Kinder fern von jedem Toten, weil man „es ihnen nicht zumuten könne“, und speist sie oft mit Lügen wie „Mama macht eine lange Reise“ ab. Kinder spüren aber, dass etwas nicht stimmt, dass ihre Fragen und Ängste nicht ernst genommen werden, und entwickeln in ihrer Fantasie ganz eigene Vorstellungen vom Tod.
„Einmal stellte mir ein Fünfjähriger, der an Infusionen und Schläuchen hing, die Frage, ob ich glaube, dass der liebe Gott wisse, dass er ein Kind sei. Das traf dann natürlich den ganz heiklen Punkt in uns allen, dass man vielleicht verstehen kann, dass jemand, der sein Leben lang ein schwerer Raucher war, irgendwann einmal an Lungenkrebs erkranken könne, aber was konnte denn ein völlig unschuldiges Kind für seine Erkrankung.“ Martina Kronberger-Vollnhofer, Ärztin im Wiener St. Anna Kinderspital, versucht verzweifelt nach einer Antwort, doch der Junge antwortet ihr selbst: „‚Du, ich glaube, der liebe Gott hat sich geirrt, weil wenn er gewusst hätte, dass ich ein Kind bin, dann hätte er nicht mich krank gemacht.‘ Diese Geschichte rührt mich heute noch nach 15 Jahren, dieses Nicht-Hadern mit dem Schicksal, sondern noch eine Entschuldigung finden für Gott“, erzählt die Ärztin.
Wenn wir jemandem den Tod wünschen
Unser Unbewusstsein kann nicht zwischen einem Wunsch und einer Tat unterscheiden. Wenn sich also zum Beispiel ein kleines Kind wünscht, dass die Mutter tot umfallen solle, weil sie ihm einen Wunsch nicht erfüllt hat, wird es auch viele Jahre später, wenn die Mutter tatsächlich stirbt, oft traumatisiert und fühlt sich für ihren Tod verantwortlich. Das ist auch der Grund, warum sich Kinder häufig für die Scheidung ihrer Eltern verantwortlich fühlen: „Wenn ich zu Papa nicht so böse gewesen wäre, dann hätte er uns nicht verlassen.“ Auch bei Paaren, die schon völlig zerstritten waren, kommt es oft vor, dass der Überlebende am Krankenbett besonders leidet, jammert und über den unwiederbringlichen Verlust des Sterbenden klagt.
Dahinter steckt die tiefe Angst, dass man selbst mit dem Leben dafür zahlen muss, weil man seinem Partner so oft den Tod gewünscht hat. Das erklärt auch die uralten Trauerriten, die sich bis heute in vielen Kulturen gehalten haben. Der Trauernde streut sich Asche auf das Haar, zerreißt seine Kleider, jammert und weint öffentlich laut. Damit versucht der Trauernde in einer Art Selbstbestrafung jene Strafe, die er für seinen Anteil am Tode der Verstorbenen zu erwarten hat, zu mildern. Selbst in unserer angeblich so aufgeklärten Welt werden vor allem hinterbliebene Partner nach wie vor von der Gesellschaft heftig dafür kritisiert, wenn sie in der Öffentlichkeit nicht tief und lange genug trauern. Je kleiner die Gemeinschaft, umso lückenloser ist die „Überwachung“ der angemessenen Trauerfrist. Das hat jedoch weniger mit der Perfidie unserer Gesellschaft zu tun, sondern viel mehr mit dem verwurzelten archaischen Muster vom Überlebenden, Sühne für den Toten zu fordern. Auch wenn wir uns kulturell und wissenschaftlich in den vergangenen Jahrtausenden enorm weiterentwickelt haben, begegnen wir dem Tod noch immer als einem Schrecknis, das wir von uns abzuwenden hoffen. Doch mit jedem Toten in unserem Umfeld wird uns deutlich, dass er auch für uns eines Tages unausweichlich sein wird. [4]
Von Löwen und Antilopen, Göttern und Menschen
Die Serengeti-Wüste in Afrika bleibt für jeden unvergesslich, der sie je sehen durfte. Als Beobachter, geschützt in seinem Fahrzeug, nimmt man die idyllisch durch die Steppe ziehenden Tierherden genauso wahr wie die drohende Gefahr durch Geparden und Löwen. Mit dem Fernglas entdeckt man die gut getarnten Raubtiere, die um die Herden schleichen. Die Tiere wissen nicht, dass der Tod unter ihnen ist, und äsen friedlich. Wird eine Antilope von einem Löwen angegriffen, befällt sie ganz kurz die Furcht und sie versucht instinktiv zu fliehen. Gelingt ihr das nicht, dann ist alles schnell vorüber für sie.
Wie radikal anders ist das Verhältnis von uns Menschen zum Tod. Einerseits sind wir tagtäglich genau in der gleichen ständigen Bedrohungssituation wie die Tiere in der Serengeti-Wüste, nur wissen wir um unser Schicksal Bescheid. Uns ist bewusst, dass ein zu spät bremsendes Auto oder eine andere Laune des Schicksals unser Ende bedeuten kann. Wir werden von zwei großen Ängsten verfolgt, die allen anderen Kreaturen erspart
Weitere Kostenlose Bücher