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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
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feststellen, dass die Dorfbewohner mit dem Material statt einer Schule die aus ihrer Sicht wichtigere Brücke zwischen zwei davor getrennten Ortsteilen gebaut hatten. Es gelang Mortenson trotzdem, seinen wichtigsten Geldgeber an Bord zu halten, wieder Baumaterial aufzutreiben, um dann beim zweiten Versuch den Schulbau persönlich vor Ort zu überwachen. Trotz seiner ständigen Bemühungen, die Dorfbewohner beim Bau der Schule anzutreiben, um seinen immer ungeduldiger werdenden Sponsor zu beruhigen, ging einfach nichts weiter. Als Mortenson völlig verzweifelt nahe am Aufgeben war, nahm ihn der Dorfälteste eines Tages in seine Hütte.
    Er servierte ihm in aller Ruhe Tee, um Mortenson schließlich zu eröffnen: „Du machst hier alle verrückt. Wenn Du in Balistan Erfolg haben willst, dann musst Du unsere Lebensweise respektieren. Bei der ersten Tasse Tee mit einem Balti bist Du ein Fremder, bei der zweiten bist Du ein Ehrengast. Und bei der dritten gehörst Du zur Familie. Und für unsere Familie sind wir bereit, alles zu opfern, sogar unser Leben. Dr. Greg, Du musst Dir Zeit nehmen, diese drei Tassen Tee mit uns zu trinken. Wir mögen ungebildet sein, aber wir sind nicht dumm, sonst hätten wir die vielen langen Jahre hier nicht überlebt.“ In den USA muss immer alles ganz schnell gehen, sogar die Mittagessen dauern nur 20 Minuten. Mortenson lernte von dem Dorfältesten diese ganz andere Kultur kennen, sein Tempo scheinbar hinunterzufahren und dem Aufbau der zwischenmenschlichen Beziehungen genauso viel Aufmerksamkeit zu widmen wie der Umsetzung des Projekts. Die Grundmauern der Schule waren dann übrigens in drei Wochen fertig. Dieser Geschichte verdankt das Buch seinen Originaltitel „Three Cups of Tea“.
    Reisen wir aus der noch immer mittelalterlichen Gesellschaft der Bergregionen Pakistans in unsere westliche Gesellschaft, dann stellen wir überrascht fest, wie wichtig die Tasse Tee oder Kaffee für uns ist, wenn wir ihren wahren Wert erkennen. Umfragen haben herausgefunden, dass besonders für gestresste Frauen die Tasse Kaffee am Morgen oft der glücklichste Moment des Tages ist. Diese Tasse Kaffee steht für eine der ganz wenigen Tätigkeiten im Lauf des Tages, die diese Frauen nur um ihrer selbst willen verrichten. Das hat daher wenig mit dem Koffein zu tun, sondern mit der Sehnsucht, der Zeitpeitsche, die sie unerbittlich durch den Tag treibt, zumindest kurz entfliehen zu können. Fühlen wir uns nicht manchmal wie ein Auto, dessen Motor zu viel Standgas eingestellt hat und daher selbst im Leerlauf auf zu hohen Touren läuft? Zu viele Menschen können Stille, Nichtstun und Muße gar nicht mehr aushalten, weil sie so daran gewöhnt sind, ihren gesamten Tag bis ins letzte Detail zu verplanen, in der völlig irrigen Annahme, diesen damit bestmöglich zu nutzen.
    Wir sollten wieder lernen, Tätigkeiten zu kultivieren, die wir nur um ihrer selbst willen verfolgen. In der hektischen japanischen Gesellschaft hat sich die Teezeremonie als scheinbar völlig veraltetes Relikt erhalten, weil dieses Ritual Zonen der Langsamkeit und der Tiefe erlaubt. In den drei Tassen Tee in Pakistan, in der Teezeremonie in Japan, in der Tasse Morgenkaffee und in der Kultur der Kaffee- und Teehäuser steckt viel menschliche Weisheit. So ist auch der Spruch des vietnamesischen Mönchs Thich Nhat Hanh zu verstehen, zu anderen statt „Sitz nicht einfach nur da; tu irgendetwas“ zu sagen, im Gegenteil „Tu nicht einfach irgendetwas; sitz nur da“ von ihnen fordern.
    Ist der richtige Umgang mit der Zeit ein Geheimnis, das nur einigen wenigen Weisen und Privilegierten zugänglich ist? Mitnichten. Zeitreich kann jeder werden, der für sich das Geheimnis im Gedicht von Jorge Luis Borges entschlüsseln kann:
     
    Die Zeit ist ein Strom, der Dich mitreißt, aber Du bist der Strom.
Sie ist ein Tiger, der Dich zerfleischt, aber Du bist der Tiger.
Sie ist ein Feuer, das Dich verzehrt, aber Du bist das Feuer.
     
    Ein erster kleiner Schritt, um der Todsünde der Zeitvergeudung abzuschwören, ist ganz einfach. Wenn Sie das nächste Mal „keine Zeit“ haben, stellen Sie sich zwei simple Fragen bezüglich jedes Begehrens, jeder Aktivität, die sich da Platz in Ihrem Leben machen will:
    Muss ich es tun?
    Will ich es tun?
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