Meine letzte Stunde
ziemlich genau, was richtig wäre. Die Realität weicht dann ab. Es ist wissenschaftlich völlig unbestritten, dass regelmäßige Bewegung, gesunde Ernährung und Nichtrauchen nicht nur unser Leben im Durchschnitt um 7 bis 15 Jahre verlängern, sondern vor allem auch die Lebensqualität im letzten Lebensabschnitt. Obwohl wir das wissen, verstoßen die meisten in ihrem täglichen Leben konsequent gegen diese ganz einfachen Prinzipien. Der Grund, warum wir so oft mit unseren guten Vorsätzen scheitern, ist, dass unser Glaube, uns verändern zu wollen, unseren Willen, uns tatsächlich zu verändern, um ein Vielfaches übersteigt. Wie ein Gummiband werden wir von unseren guten Vorsätzen weg- und zur Selbstsabotage an unserer Gesundheit hingezogen. Das schlechte Gewissen lädt sich wie eine äußerst kurzlebige Batterie immer auf, wenn wir auf die Waage steigen, die letzte Etage ohne Lift nur keuchend erreichen oder am Morgen von Hustenanfällen geschüttelt werden, um dann innerhalb weniger Stunden auf das niedrige Ausgangsniveau zurückzufallen. Nur nach längeren Krankenhausaufenthalten wird das schlechte Gewissen schockartig auf einem hohen Niveau eingefroren, das aber spätestens nach einigen Wochen wieder abfällt. Einfach gesagt: Der innere Schweinehund feiert unser ganzes Leben lang klare Punktesiege über das schlechte Gewissen, kann sich aber nicht ewig über diesen Erfolg freuen, denn irgendwann holt sich das schlechte Gewissen schließlich den obersten Schiedsrichter als Verbündeten, der das Spiel unerwartet für immer beendet.
Auch der tägliche Kampf um den Punktestand in unserer Sozialbilanz ist mindestens so schwierig. Selbst wenn das Wissen, wie wichtig und lebensverlängernd unsere sozialen Kontakte für unsere nächsten Angehörigen und auch für uns selbst sind, noch nicht ganz so verbreitet ist wie die zuvor aufgezeigten Zusammenhänge unserer Gesundheitsbilanz, lassen die Fakten der wissenschaftlichen Langzeitstudien keinen Zweifel daran. Jene Zeit, die wir mit unseren Eltern, Kindern und engsten Freunden verbringen, fettet unsere Sozialbilanz gewaltig auf und kann durch keinen Zuwachs auf unserem Bankkonto ausgeglichen werden. Die „Harakiri-Methode“, also die souveräne und dauernde Missachtung aller Prinzipien, um lange und glücklich zu leben, wird gerade in den westlichen Ländern in der täglichen Realität weit konsequenter praktiziert als Fitnesstraining, Yoga, Meditation oder Joggen.
Als ich von den schlimmen Folgen des Trinkens las, gab ich sofort das Lesen auf.
Henny Youngman
Gute Vorsätze sind meist schon aufgrund ihres völlig unrealistischen Anspruchs zum Scheitern verurteilt, wir erhöhen uns in unserer Fantasie und versagen in der Realität des Alltags. Nicht der radikale Weg des Yogi, des Mönchs oder des Fakirs ist den meisten Menschen möglich. Das ist auch gar nicht sinnvoll. Es geht nicht darum, sein Leben radikal zu ändern, das gelingt nur ganz wenigen.
Es geht um die zwei bis drei Prozent, die wir jeden Tag verändern könnten. Wenn ich an den mindestens 30 Jahren, die hoffentlich noch vor mir liegen, nur ein Prozent verändere, dann werde ich 2628 Stunden in einer zusätzlichen Qualität erleben.
2628 Stunden lang die Chance, einen Menschen genauer anzuschauen, in einem Gespräch genauer hinzuhören, zu lachen, mich über den Sonnenaufgang zu freuen, jemanden anzulächeln und dafür mit einem freundlichen Lächeln belohnt zu werden, mich auf die sprudelnde Neugierde eines Kindes einzulassen, die Luft in einem Wald nach dem Regen einzuatmen, einen geliebten Menschen tief zu berühren und vieles mehr. Es geht nur um dieses eine Prozent, das uns ein anderes, ein reicheres Leben eröffnen könnte: Zeit des Hinschauens, Zeit des Zuhörens, Zeit des Verstehens – Zeit, zu lieben.
[1]
Elizabeth Lesser: Broken Open: How Difficult Times Can Help us Grow, New York 2005, S. 25
[2]
Elisabeth Kübler-Ross: Interviews mit Sterbenden, München 2001, S. 216
[3]
Seneca: Von der Kürze des Lebens, München 2005, S. 6
[4]
Daniel Hamermesh: Economics Is Everywhere, New York 2005
[5]
Stefan Klein: Zeit. Der Stoff, aus dem das Leben ist. Eine Gebrauchsanleitung, Frankfurt am Main 2006, S. 229–238
Anklage auf Hochverrat – wenn wir unsere Lebensträume aufgeben
„Es hat keinen Sinn, es zu versuchen. Man kann nicht an das Unmögliche glauben“, sagte Alice. „Ich wage zu behaupten, dass Du darin nicht viel Übung hast“, antwortete die Königin. „Als ich in Deinem
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