Meine letzte Stunde
Alter war, habe ich es immer für eineinhalb Stunden getan. Manchmal habe ich an sechs unmögliche Dinge noch vor dem Frühstück geglaubt.“
Lewis Carroll, „Alice im Wunderland“
Als Kinder hatten wir den unglaublichen Luxus, das ganze Leben vor uns zu haben. Wir konnten uns jede verrückte Idee ausmalen, die uns motivierte, große Pläne für unser Leben zu schmieden. Sportheld, Filmstar, Prinzessin, Pferdedoktor, Tiefseeforscher oder Raumschiffkapitän, jeder Weg stand uns offen. Meine offiziellen Berufswünsche begannen mit Baumeister, damit ich meiner Mutter ein schönes Haus errichten könnte. Darauf folgte dann Zahnarzt, weil ich irgendwo gehört hatte, dass diese viel Geld verdienten. In meiner Fantasie schwankte ich zwischen Zorro und Piratenkapitän, aber das behielt ich lieber für mich. Ich verfügte über die wunderbare Fähigkeit, im Traum fliegen zu können. Ich öffnete das Fenster, flog durch die Landschaft und erlebte tolle Abenteuer, in denen ich natürlich immer der Held war. In meinen Träumen siegte fast immer das Gute, und wenn die Gefahr bestand, dass das Böse mich verschlingen würde, verstand ich es, mich selbst aus dem Traum zu holen und aufzuwachen. Irgendwann verlernte ich das Fliegen, konnte nicht mehr abheben. Peter Pan wich aus meinem Leben. Ich wurde erwachsen. Die Fähigkeit, zu träumen, habe ich mir erhalten.
„Ein Mensch darf nie aufhören, zu träumen. Der Traum ist für die Seele, was Nahrung für den Körper bedeutet“ ist für mich der wichtigste Satz von Paulo Coelho. Doch je erwachsener wir werden, umso klarer erkennen wir, dass wir unsere Träume gegen die harten Erfahrungen der Realität des Lebens verteidigen müssen. Mit jeder Entscheidung für eine bestimmte Ausbildung opfern wir einige Träume, deren Verwirklichung dadurch nicht mehr möglich scheint. Wenn man Verkäufer lernt, kann man nicht mehr Automechaniker oder Friseur werden, und schon gar nicht Musiker. Mit dem ersten Job, den wir antreten, verschließen wir uns viele andere Wege. Dieser Glaubenssatz ist so einfach wie falsch. Es ist vielmehr die Versuchung, im Zweifel doch das vermeintlich sicherere statt des erträumten Studiums zu wählen, den Job zu nehmen, der uns angeboten wird, statt um den zu kämpfen, der uns erfüllen würde, die uns immer weiter von unseren Träumen wegführt. Wir trösten uns mit dem Gedanken, dass wir ja noch so viel Zeit hätten, unserer wahren Bestimmung zu folgen. Wir finden überzeugende Gründe, warum es vernünftiger ist, die großen Pläne vorerst einmal aufzuschieben. Manche Kindheitsträume erweisen sich auch als unrealistisch und lassen sich ohne große Wehmut abhaken. Wenn man kein Blut sehen kann, wird es wohl nichts mit dem Tierarzt. Kurzsichtigkeit ist keine gute Voraussetzung, um Flugzeugpilot zu werden. Eine dumme Verletzung beendet so manche Sportlerkarriere, bevor sie noch begonnen hat.
Viele Menschen wissen auch nicht, wo ihre natürlichen Talente liegen. Oft verwechseln sie jene Dinge, die sie gerne tun, mit den Dingen, für die sie wirklich begabt sind. „Deutschland sucht den Superstar“ zelebriert dieses Missverständnis gnadenlos beim Thema Singen. „Viele fühlen sich berufen, nur wenige sind auserwählt“ heißt für mich aber nicht, dass man aufgrund der Chancenlosigkeit seiner Berufung nicht folgen darf, sondern dass man eben genau hinhören und sich kritisch prüfen muss, wofür man tatsächlich auserwählt wurde. Nur die wenigsten haben ein wirklich einzigartiges Talent wie Mozart für Musik, Picasso für Malerei, Mutter Teresa für Mitgefühl, Shakespeare für Dramen, Agatha Christie für Krimis oder Pelé für Fußball. Aber die Art, wie wir unsere natürlichen Talente nutzen, bietet die Gelegenheit für ein einzigartiges Leben. Wenn wir unsere Kindheitsträume eintauchen in das Scheidewasser, das sich aus den Elementen Durchhaltevermögen, Erfahrung und Realitätsbezug zusammensetzt, dann können wir daraus unsere wirklichen Lebensträume destillieren.
Nehmen wir den wunderbaren Traum, kreativ oder künstlerisch arbeiten zu wollen, ja sogar davon leben zu können. Zum Beispiel den Wunsch, ein Buch schreiben zu wollen. Potenzielle Buchautoren teilen sich in zwei Gruppen. Die einen sagen: „Ich würde gerne ein erfolgreicher Schriftsteller sein“, die anderen: „Ich würde gerne schreiben.“ Erstere sehen sich schon als gefragte Gäste auf Cocktailpartys und in Talkshows – sie sehnen sich nach Status und Erfolg. Letztere
Weitere Kostenlose Bücher