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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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magischer Kraft in ihren Bann! Ich weiß noch heute genau, dass viele uns um diese Freundschaft beneideten. Wir waren sehr stolz auf diese Freundschaft, nicht, weil es die Gräfin Stenbock-Fermor war, die uns diese schenkte, sondern weil wir sofort die große menschliche Qualität spürten, die sie auszeichnete und die sie uns immer wieder, schon dort in Utersum, unter Beweis stellte; ihre Güte und ihre Großmut Schwächeren und Ärmeren gegenüber.«

    Doch verrät sie – Mimi – sich nicht ein wenig, wenn sie glaubt, betonen zu müssen, dass dies nichts mit der Tatsache zu tun hatte, dass Charlotte eine Gräfin war? Ich hatte ihn beinahe vergessen, diesen Titel, aber er muss doch eine magische Anziehungskraft ausgeübt haben, als wenn sie ein Filmstar gewesen wäre, und das ganz besonders an einem »Kurort« wie Utersum, an den arme Arbeiterfrauen geschickt wurden. Mimi gibt zwei Beispiele an, die von Charlottes »großer menschlicher Qualität« zeugen: Ein Ausflug auf die
nahegelegene Insel Sylt kostete fünf Mark, aber ein Mädchen hatte kein Geld dafür. »Und was machte unsere Charlotte da? Nun, sie holte ohne zu zögern ihren Notgroschen, ihren allerletzten, raus und schenkte ihn dem Mädchen.« Und ein anderes Mal, bei einem anderen Ausflug, bei dem man durch eine ziemlich tiefe Stelle waten musste und eines der Mädchen nicht waten konnte: »Und was machte unsere Charlotte da? Nun, sie hob die Kleine auf ihre schmalen Schultern und trug sie rüber, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie sich selbst damit hätte in Gefahr bringen können.« Charlotte habe immer das Richtige getan, stellt Mimi fest, und das immer zum richtigen Zeitpunkt.
    Aber wenn ich diese Lobhudeleien mal beiseiteschiebe – Herrgott nochmal, als sie diese Erinnerungen aufschreiben, ist Charlotte ja schon längst tot –, so gewinne ich doch nützliche Fasern, mit denen ich das Gewebe verdichten kann, aus dem meine Mutter hervortritt. So stellt Mimi den Selbstmordversuch meiner Mutter in Zusammenhang mit Alexanders Seitensprung mit Florence: Dass Florence nach München gefahren und Alexander ihr gefolgt sei, das habe Charlotte nicht verwinden können, wo sie Alexander doch monatelang – abends, nach Feierabend – geholfen hätte, Deutschland von unten ins Reine zu tippen. Und dass nie Geld im Haus gewesen sei.
    Aber so ganz darf man Mimi nicht trauen – verwechselt sie doch Heinrich mit dessen Bruder Alfred. Außerdem ist sie der Meinung, dass Otto schon als Kind gestorben ist und Fritz längst tot war – gut, sie kann das in ihrer Rekonstruktion ja auch durcheinandergebracht haben, wo Lottie ihren Vater doch auch »getötet« haben soll – und dann sei da etwas gewesen, wie Mimi sich zu erinnern meint, weshalb sie und Lottie so eine Seelenverwandschaft verband: Dass sie beide keine ganz ungetrübte Kindheit gehabt hätten, und sei es
denn nicht auch so gewesen, dass ihre Eltern keine besonders glücklichen Ehen geführt hatten?

    Charlotte mit Freundin – Westi? – in Utersum.
    »Manchmal konnten wir nachts nicht schlafen«, fährt Mimi in ihrer Schilderung fort; dann sei Charlotte zu ihr herübergekommen und sie hätten in der Dunkelheit gelegen und miteinander geflüstert.
    Aus ihnen wurden Freundinnen. Und im Herbst haben sie sich in Berlin getroffen; zum Abendessen beim Grafen und der Gräfin – man musste ziemlich weit raus, bis nach Wilmersdorf-Schmargendorf fahren, wo Räucheraal und Schnaps und Wodka und Salzgurken aufgetischt wurden, und ja, man sprach viel russisch – und der Graf muss Mimi doch mit seinem Charme für sich eingenommen haben, wo sie ihm in ihrer Schilderung doch so viel Platz einräumt. Er sei ein Gesellschaftsmensch gewesen, habe sein Schloss mit sich getragen, und trotzdem, ja, man stelle sich nur vor, trotzdem war dieser Adelsmann mit Bergarbeitern befreundet und hat ein Jahr lang Seite an Seite mit ihnen gearbeitet …

    Meistens jedoch hat sie Charlotte im Don getroffen, wo all die anderen Grafen und Barone verkehrten, die Charlotte allesamt kannte, und dann pflegte sie mit ihrer heiseren Stimme zu Mimi zu sagen: Wir wollen uns einen zarten Wodka genehmigen, was sie dann auch getan haben. Auf die Chro
nologie von Mimis Schilderung ist kein Verlass – Alexander und meine Mutter hatten sich ja schon im Herbst scheiden lassen, und auch die Adresse stimmte nicht; seit dem Frühjahr 1932 wohnten sie schon in der Friedrichsruher Straße 34 bei Pochamer. Und hat sie, die kommende

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