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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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genützt hat? Und was soll das hier heißen?
    Denn sie schreibt buchstäblich Chiffren – unleserliche, kleine Schnörkel füllen die vergilbten Tagebuchseiten. Ich glaube allerdings zu ahnen, was sie sagen und was sie verbergen will. Wenigstens legt sie poetische Spuren, die nur zu deutlich davon sprechen, was sie – fünf Jahre nach der Hochzeit – quält. Und es ist das alte Lied, wenngleich eine für sie schmerzhafte, völlig neue Erfahrung:
    »Verloren die Liebe, die Rosen verblüht
    Verloren die Liebe, die Lieder verklungen
    Turm, Grenz' und Tor – zu Asche verglüht
    Verschwunden die Stadt, die Liebe gegangen«

    Die Liebe (seine?) ist verloren; sie spült ihr glänzendes Haar und schreibt ein Gedicht mit dem Titel Jalousie – Eifersucht – ab. Ein Gedicht nach dem anderen wird gleichsam schluchzend auf die Seiten übertragen – ah! Ach, Emilie, jetzt verstehen wir nur zu gut:
    Der Geliebte ist die Sonne – die ewig lodernde Flamme – aber ohne Treue – die Macht anderer Frauen – ich will nicht weinen – ennui – ein weiterer Tag verloren. Und dann, mit einem dicken Strich unterstrichen: désenchantement , Ernüchterung. Er betrügt sie, seine Treue ist dahin und ihre Strafe besteht darin, ihre Liebe zu ihm zu töten.

    Ich versuche mich an einer Deutung von alten Aufnahmen und Wortfetzen. Die Haare, die zu glänzen haben, Frauen, die klein und zierlich sein sollen und denen Jugendlichkeit und Vitalität, Schlankheit und gleichsam etwas Scheues anhaften soll. Das Kindermädchen. Noch ein richtiges Mädchen. Fritz?
    »Kannst du was darüber finden?«, frage ich Eili, die seine im Gefängnis von Radautz begonnenen und nie beendeten Memoiren auf den Rückseiten der Bestellformulare durchliest.
    »Nein«, antwortet sie, »nicht mehr, als dass er Seufzer über verlorene Jugend und Schönheit tut – aber wer tut das nicht?«

    Mutter und Tochter 1918.

Kapitel 2
    Emilie und der Krieg
    Bukowina 1912-1920
    »Glaub ja nicht, dass ich so sanftmütig reagieren werde wie damals in Oxford, wenn Du jetzt wieder Umzugsabsichten hegst«, schreibt sie, Emilie, während des Ersten – des Großen – Weltkrieges mit neuem Selbstvertrauen aus Radautz an Fritz.
    Ja, sie wäre damals bestimmt lieber in Oxford geblieben, trotz etwaiger Kindermädchen – Fantasien, Yvonne, Fantasien? –, in ihrem schönen Haus, in der Stadt der Gelehrten. Wie kann sich ein Buchhändler, der sich Bildung und Ausbildung verschrieben hat, nach etwas anderem sehnen, als in einer der herausragendsten Universitätsstädte der Welt zu leben? Warum also lassen sie 1912, fünf Jahre später, erneut alles hinter sich und fahren ans »Ende der Welt«, wie Emilie es selbst ausdrückte? Weshalb will er fort? Weshalb waren jene Jahre viel zu »ruhig«?
    Vor allem, weil Fritz Geld erbt – viel Geld. Über 20 000 Mark. Von wem, weiß ich nicht, aber wenn man den Familienstammbaum studiert, fällt einem auf, dass es seit vielen Generationen Gärtner- und Maurermeister auf seiner Seite gegeben hat und aus den später lebenden Schledts sogar Bauunternehmer und Architekten wurden – ihr schönes Jugendstilhaus in der Sierichstraße in Hamburg verströmte geradezu eine gediegene Bürgerlichkeit und Geld. Als Eili und ich im Sommer 1949 dorthin geschickt wurden, um eine Zeit lang bei Mamas Cousine Tante Margret zu wohnen, stand das Gebäude zwischen den Häuserruinen und der überall greifbaren
Armut noch unzerstört da. Damals lebte auch noch Fritz' Bruder Otto, der in der Wohnung umherschlurfte und Opa genannt wurde.

    Wie auch immer – Fritz erbt. Er bekommt Geld, der Stoff aus dem Träume sind. Und er träumt von einer deutschen Buchhandlung. Bestimmt hat er sich im snobistischen Oxford nie ganz heimisch gefühlt – er war ja auch kein Akademiker. Was konnte er seiner Familie also schon bieten? Vielleicht hatte es sich bei der von ihm bedienten Klientel ja auch um deutsche Emigranten gehandelt?
    Erneut muss ich denken: Was wäre, wenn sie geblieben wären? Inzwischen war der Krieg ausgebrochen. Was geschah eigentlich während des Krieges mit den in England lebenden Deutschen, dem Feind in unserer Mitte? Es herrschte mit Sicherheit ein gespanntes Klima. Hätte es wohl etwas genützt, dass Emilie zur »richtigen Seite« gehörte? Vermutlich hätte das gar nicht gezählt, sie war ja nur eine Frau Schledt, eine Mrs. Schledt. Und meine Mutter wäre dann zwar wie eine Engländerin, aber mit einer gespaltenen Einstellung zu ihrem Land aufgewachsen –

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