Meine Mutter, die Gräfin
mit einem Vater, der »aus dem Ausland stammte« und zu den Feinden gehörte. Sie hätte die entsetzlichen Bilder der britischen Schreckenspropaganda vom »Boche«, dem holzköpfigen Deutschen, der kleine Kinder auffraß, gesehen und ihrem blassen Vater erstaunt das Gesicht zugewandt. Oder?
Genug davon. Da sitzt er nun also mit seiner kleinen Familie im friedlichen Oxford, mit Geld, das der lieben Seel' keine Ruhe lässt und woanders einen Neuanfang ermöglicht. Bestimmt gab es damals irgendein Branchenblatt, vielleicht hat er ja darin gelesen, dass in der kleinen Universitätsstadt Czernowitz am äußersten Rand des Habsburger Reiches eine halbe Buchhandlung (Pardinis Universitätsbuchhandlung)
zu verkaufen war – un peu loin du monde , am Ende der Welt, wie Emilie in der Bukowina notiert. Also fuhr Fritz los – wieder eine dieser Reisen! –, fuhr ohne Pass und glücklich darüber, sich wieder jung und ungebunden zu fühlen, könnt' ich wetten, fuhr davon, quer über den Kanal und dann mit dem Zug weit hinein nach Zentraleuropa. Um nachzusehen, ob das etwas für ihn – für sie – sein könnte.
Das war es. Fand er. Er kam im Januar 1912 dort an, als die Stadt noch halb unter Schneemassen begraben lag, war vollauf begeistert und schrieb in den Kaufvertrag, dass er die Buchhandlung vom ersten August desselben Jahres an übernehmen würde. Fait accompli – und sie akzeptierte natürlich sanftmütig ihr Schicksal, ließ ihr Haus, ihre Schwester, ihren Garten zurück, nahm Lolotte von der Schule, packte Möbel, Kleidung, Silber, Kristallgläser und Bücher, Bücher und nochmals Bücher zusammen, regelte dies und regelte das mit jener Flinkheit und Effektivität, für die sie so berühmt war, ja, regelte all die tausend kleinen Dinge, die geregelt werden mussten, und los ging's.
Es gibt ein Foto von der hübschen Kleinfamilie Schledt, ein Foto, das vermutlich aufgenommen wurde, als sie ganz frisch in Czernowitz angekommen und mitten in ihrem neuen Abenteuer gelandet waren.
Familie Schledt kurz nach ihrer Ankunft in Czernowitz.
Das Atelier des Fotografen lag in der Kirschstraße, und sie sehen uns von der dort entstandenen Aufnahme ernst an: Die schöne Emilie, die ihr herrliches Haar nicht länger zu einem kleinen runden Knoten auf dem Oberkopf trägt, sondern in schmeichelnden seitlichen Wellen; meine Mutter bzw. Lolotte – sechs Jahre alt, in einem hellen Kleid mit um die Taille geschlungenem Seidenband und Zöpfen (die aber bei weitem nicht so fest geflochtenen waren, wie meine Mutter später meine Haare geflochten hat – mit einem kleinen festen, selbst die feinsten Härchen bändigenden Zopf,
der anschließend in den großen Zopf mit eingeflochten wurde). Sie hält Emilies Hand und macht einen ruhigen, abwartenden Eindruck. Dann Fritz, dessen Haare schon bedenklich schütter geworden sind – dafür sitzt der Schnurrbart noch an Ort und Stelle. Zwischen seinen Knien steht Otto, dessen Schürzentasche ein kleiner, kecker Seemannsjunge ziert. Otto mit seiner trotzigen, fast grimmigen Miene. Und schließlich ist da Leni, in sich zurückgezogen , halb hinter ihrem Vater sitzend, die große Schwester zwischen sich und der Mutter. Die kleine Leni, die misstrauisch in diese neue, seltsame Welt blickt, in der niemand mehr englisch mit ihnen spricht. Wo sind sie bloß gelandet? Wohin hat er sie jetzt gebracht, um Gottes willen?
Bukowina
Wenn meine Mutter früher von ihrer Kindheit sprach, flatterten die Worte wie fremde Vögel über unseren Mittagstisch: Bukowina Czernowitz Radautz (fast wie ihre Serie von Flüchen, von der wir nur das Ende verstanden und deren Mitte ich vergessen habe. Es klang wie: Tszanjad ichtnjawitch etwas etwas verflixt und zugenäht ). Es hat lange gedauert, bis ich mich für die richtige Reihenfolge von Czernowitz Radautz Bukowina interessiert habe – für mich konnte das nur zu gern weit weg, nebulös und verschwommen bleiben.
Jetzt aber, wo ich endlich mehr darüber wissen möchte, suche ich nach so detaillierten Landkarten wie möglich, und allmählich gewinnt dieses Osteuropa für mich an Kontur – wenn da nur nicht das Problem wäre, dass sich Länder und Grenzen dort immer wieder geändert haben. Aber so stimmt die Reihenfolge: Zuerst kam die Bukowina – ein selbstständiger Landstrich, 10441 km 2 groß, der der Herrschaft diverser Reiche unterstellt war. Als die Familie Schledt dort eintraf, war sie nach dem Sieg über die Türken 1774 ein Teil des Habsburger Reiches –
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