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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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konnten, krochen sie unter die Leiterwagen, um dort eine kleine Rast einzulegen. Es gab kein Durchkommen, und mein Junge war so vom Blutverlust geschwächt, dass er tief und fest schlief. Ein Glück – hatte der kleine, tapfere Kerl doch nicht einmal geweint, sondern mich nur mit großen hoffnungsvollen Augen angesehen, als ich seine Fingerkuppen wieder ansetzte, bevor ich ihm die Bandage anlegte. Er vertraute voll und ganz auf seine Mama – denn sie konnte ja alles.«

    Emilie konnte alles. Und wagte alles: »Eines Morgens machte ich die Buchhandlung nicht auf, weil ich mit meinem Sohn einen Arzt in der Stadt aufsuchen wollte – vergebens. Danach wollte ich schnellstens wieder nach Hause, wo ich meine beiden Töchterchen bei dem Dienstmädchen gelassen hatte. Die Straßen waren gesperrt und wir mussten einen weiten Umweg in Kauf nehmen, um nach Hause zu kommen. Dort bereitete ich sofort eine riesige Milchkanne mit gutem, heißem Kaffee zu und begab mich damit in die nächstliegenden Straßen und zu den armen Soldaten [Österreicher?], die in den Straßengräben lagen und die Stadt gegen den Rückzug ver
teidigten, um ihnen etwas zu essen und zu trinken zu bringen.«
    Denn alle flüchteten. Die Stadt stand ohne Ärzte da – Ottos Finger waren nur eilends von einem verängstigten, zitternden Arzt schief angenäht worden, der danach gleich die Flucht angetreten hatte. »Ja«, hält sie fest, »sogar die Pastoren flohen.« Alle gaben Fersengeld: »Mein Buchhandelsgehilfe verließ mich und machte sich zu Fuß mit allen wehrfähigen Männern der Gegend auf den Weg über die Karpaten nach Ungarn. Und ich blieb allein.«
    Und jetzt kamen erneut die Russen. Wie sollte es diesmal bloß werden? Sie verbarrikadiert sich mit den Kindern – woran Lottie sich deutlich erinnern kann: Sie stellten in der fensterlosen Kammer entlang den Wänden Matratzen auf, setzen sich mit einer Öllampe, zwei großen Brotlaiben und Wasser hin und harrten der ersten Plünderungswelle. Es wurde stickig, sodass Emilie die Tür einen Spalt öffnete und durch das Schlafzimmerfenster auf die Straße schaute, wo sie drei Kosaken mit geladenen Gewehren sah und dann noch drei weitere. Kurz darauf klopften sie an die große Eingangstür, an die Kellertür und die Tür zum Garten:

    »Wem sollte ich aufmachen: Den Kosaken, der Artillerie oder den Offizieren? Ich konnte ja kaum Russisch sprechen, also öffnete ich den Offizieren. Gleich fünf Stück standen vor der Tür, von der leichten Gebirgsartillerie. Die Kanonen hatten sie schon unter den Bäumen im Garten aufgestellt. Sie redeten auf mich ein – ich war wohl doch ein bisschen blass um die Nase –, dass ich keine Angst haben sollte, dass sie Frauen nichts täten. Ich antwortete auf Französisch [Russland und Frankreich kämpften ja auf derselben Seite] und schon bald kehrte wieder Ruhe ein. Die Stabsoffiziere quartierten sich bei mir ein. Und so war ich vor der ersten Plünderung in Sicherheit.«

    Am Nachmittag hatten fünfzig Kosaken mit ihren Pferden auf der schönen Wiese vor ihrem Haus ihr Lager aufgeschlagen. Zelte wurden errichtet. Abends flackerten malerische Feuer auf der Wiese und die Kosaken fingen zu spielen, zu tanzen und zu singen an – vierstimmig und mit sehr geschulten Stimmen, »obwohl sie nur einfache Soldaten waren«. Ein Anblick, den Lottie nie vergessen sollte: Die wilden, schönen Reitersleute, die Feuer, die die Nacht erhellten, die Lieder, die Tänze. »Was war das schön!«
    Emilie konnte ihre Buchhandlung wieder aufmachen – das Französische trug natürlich seinen Teil dazu bei. Der russische Militärarzt kümmerte sich um Ottos Finger »und das Leben ging weiter. Die Truppen zogen weiter, Radautz war und blieb eine Etappe.« Die Kämpfe fanden jetzt an anderen Orten statt, um Kirlibaba und Dorna-Watra (kleine Ortschaften in der Nähe von Radautz), an der Grenze zwischen der Bukowina und Ungarn.

    »Für uns Kinder aber«, lese ich Mamas Worte, »begann ein herrliches Leben: keine Schule, keiner, der uns beaufsichtigte. Man konnte den ganzen Tag draußen sein, herumstrolchen, auf den Straßen spielen und Abenteuer erleben – kurzum: Wir waren glücklich.« Und ein Teil des Glücks beruhte – erneut – auf der väterlichen Abwesenheit. »Man brauchte keine Angst mehr zu haben, denn Papa, der alles mit Prügel bestrafte, war nicht da.« Alles. Alles?
    Als Emilie am 20. Mai 1916 an Fritz schreibt, beschwört sie – trotz der Sache mit Ottos Fingern – ein Idyll

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