Meine Mutter, die Gräfin
während die jungen, hübschen Töchter lachend die Fassade dekorieren. Papa ist wieder da, und das mit großem Trara. Und alle sind ganz außer sich vor Freude.
»Diese Sache«
Ich mache mir nichts vor. Ich verstehe schon. Es könnte so gewesen sein. Ich habe Bauchweh, bin müde. Draußen ist alles so grau, und ich bin deprimiert. Bald ist alles vorbei. Ich werde bald sterben. Und der Weltuntergang naht auch. Ich starre übers Wasser. Wenn ich etwas über meine Mutter und ihren Vater zu Papier bringen will, dann muss ich es jetzt tun. Ich glaube, ich gehe raus, eine Runde spazieren. Es sind ja sowieso alles nur vage Spekulationen. Denk an Sven! Und Leni? Glaubst du – sage ich zu mir selbst –, glaubst du, sie hat diese Geschichte wirklich nur konstruiert und sich selbst etwas vorgemacht? Und wenn es so war – wenn er tatsächlich versucht hat, sich über die Kleine herzumachen, weshalb sollte er dann die Große, die Schönste, die Liebreizendste in Ruhe lassen?
In ihren Briefen von 1918 bringt Emilie regelmäßig die Sprache auf ihre älteste Tochter, die immer reizender wird. Hier in einer Schilderung einer Silvesterfeier:
»Du hättest Lottie sehen sollen! Wie allerliebst – keck und unbefangen – sie sich auf der Bühne bewegt hat. Ich war ganz baff ob ihrer Sicherheit vor dem Publikum. Sie war der ›Höhepunkt‹ des Abends und bekam so viel Applaus, dass selbst ältere Mädchen deswegen den Kopf hätten verlieren können.«
»Ich kann nur zu gut verstehen, dass Du in Lottie verliebt bist«, schreibt Emilie im späten Frühjahr 1918, »es gibt nichts sanfteres als ihr feines Gesicht, mit dem sie so gescheit und süß in die Welt blickt! Inzwischen hat sie das erste Jahr auf dem Gymnasium hinter sich – ohne die geringste Anstrengung –, und auch ihr Klavierspiel wird immer besser, gewinnt immer mehr an Gefühl. Und dann ist sie noch eine leidenschaftliche Leseratte – beneidenswert!« Das ist auch der Brief, in dem Emilie ihre Vorstellungen von der Rassenveredelung in Verbindung mit Schwangerschaft und dem Charakter des Kindes entwickelt: »Wenn ich in ihr feines Gesichtchen sehe, muss ich immerzu an die wunderbare, glückselige Zeit denken, in der ich sie trug. Wie zutiefst beglückt ich doch war, wenn ich an mein Kind dachte; wie ich versuchte, guter Dinge zu sein und schöne Gedanken zu hegen! Und all diese tief empfundenen Gemütsbewegungen wirkten auf sie ein, und wenn ich sie mir so ansehe, kommt sie mir wie ein Wunder Gottes vor.«
Ein Wunder Gottes, in das Papa Fritz verliebt ist. Wie könnte er sich ausgedrückt haben? Unsere Tochter ist ja so liebreizend, es bleibt einem ja gar nichts anderes übrig, als sich in sie zu verlieben. Ja, wer könnte sich nicht in sie verlieben?!
Denn Charlotte ist wirklich auf dem besten Wege, sich zu einer wahren Schönheit zu entwickeln: Sogar ihre hervorstehenden Zähne tragen dazu bei, verleihen ihrem Profil mit der klassisch schön geschnittenen geraden Nase und den vor
nehm zitternden Nasenflügeln einen gewissen aristokratischen Touch. Ihre blonden Locken sind mittlerweile dunkelbraun geworden, und ihre Augen weisen eine graublaue Farbe auf. Ihre Augenbrauen nehmen sich in diesem schönen Gesicht mit den hohen Wangenknochen, dem Mouche auf der linke Wange und der klaren Stirn wie Flügel aus. Aber noch zeigt sie Babyspeck. Doch mit dem Krieg endete auch ihre Kindheit; 1919 wurde sie dreizehn.
Was ich weiß , ist, dass sie vor dem Abitur von der Schule abging. Sie hat uns Kinder immer davor gewarnt und auch immer versucht, mir einzutrichtern, wie wichtig es sei, weiterzulernen, als ich auf dem Gymnasium war, sodass ich das Abitur machte, und später auf die Universität ging – was schließlich dazu führte, dass ich Professorin wurde. Wenn sie das noch hätte erleben können, hätte sie das bestimmt gefreut.
Sie selbst aber hörte nach vier Jahren Volksschule und vier Jahren auf dem humanistischen Gymnasium mit der Schule auf. Ich frage Eili, wie viele Klassen es noch bis zum Abitur gewesen wären. Sie meint, dass es noch mindestens vier gewesen sein müssten. Warum also ging sie von der Schule ab? Wo sie doch das Lesen so liebte: »Dann ist sie noch eine leidenschaftliche Leseratte«, schrieb Emilie. Obwohl das natürlich nichts miteinander zu tun haben muss – im Gegenteil. Also – warum ging sie ab?
»Ich trat in die Buchhandlung meines Vaters ein«, hält sie 1934 in einer Kurzbiografie für die sowjetischen Behörden lakonisch fest
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