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Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Titel: Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Steimle
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natürlich.
    Warum Opa Otto allerdings nach dem Krieg nie arbeiten war, habe ich nicht erfahren, bis heute nicht. Auf dem Gottesacker verbieten sich Fragen, und ehrlich gestanden, zieht es mich selten dorthin, zu den Friedhöfen und Gräbern.
    Opa hatte einen gewaltigen Ranzen, sprich Bauch, der von einem Katzenfell zusammengehalten wurde, dem Fell einer Katze übrigens, welche er im letzten Jahr noch gestreichelt hatte und die ihn nun vor Kälte schützte oder wenn ihm, der mit dem letzten Schiff von Norwegen runtergekommen war, etwas an die Nieren ging.
    Und jeden Morgen legte er sich »Ruschple«, so hieß das ehemals geliebte Katzentier, um seinen Bauch nach einem beherzten Schluck aus der Teekanne, natürlich nur aus der Schnauze trinkend. Tassen wurden gemieden, denn diese bedeuteten unnötigen Aufwasch. Und der Wermut-Tee schmeckte gallebitter. Er musste mindestens eine Nacht gezogen haben, um seine volle Wirkung an Opas Galle entfalten zu dürfen, und die lief ihm oft über. Vor allem, wenn ich störte oder die neue Katze, also die, die nach Ruschple kam, sich verbotenerweise über das frisch gekochte Lungenhaschee hermachte. Dann flippte Otto aus.
    Kefir, natürlich auch selbst angesetzt, gehörte ebenfalls zur Leib- und Magenspeise meines Großvaters, der am liebsten mit freiem Oberkörper und katzenfellumwickeltem Bauch am sonntäglichen Küchentisch stundenlang einen Schweinsbraten spickte. Mit Speck natürlich. Der Braten sollte ja »nach etwas schmecken«. Also wurde er mit Speck gespickt. Dazu gab es einen einzigartigen Hefekloß. Im Thüringischen »Mahlhüdes« genannt; und da fällt mir auch der Spruch aus dem Hausflur wieder ein, der als Evangelium aller Thüringer bis heute gelten darf: »Hüdes on Brüh . . . do ged nis drüh.« (Klöße und Brühe, da geht nichts drüber.)
    Ja, ich geb’ zu, dafür würde ich auch heute noch mein Vaterland verraten – für Opas selbst gespickten Schweinsbraten und Mahlhüdes, dazu Sauerkraut mit Leberwurst. Dass meine Oma stundenlang das Sauerkraut »beobachten« musste, fiel gewissermaßen unter den Tisch. Nur Opas Spickarie, wobei sich nach einem offenbar geheimen Schlachtplan seine Finger immer nach exakt bemessenen Abständen in das Schwein bohrten, blieb im Gedächtnis und wurde beim Verzehr des Bratens ausgiebig gelobt. »Diesmal ist er ganz besonders saftig«, rief auch ich entzückt, und Großvater, der im Gesicht mit den Jahren dem Braten immer ähnlicher wurde, bemerkte
wichtig: »Das liegt nur an den Abständen«, und dabei reckte er den rechten Zeigefinger vielsagend in die Höhe.
    Gerade als er sich ein weiteres großes Stück quasi einverleiben wollte, riet ihm meine Oma zur Einsicht, mit einem Wort, welches sich mir bis heute ins Hirn brannte. »Otto«, flüsterte sie beinahe erotisch, »denk bissel an deine Figur. Gugge: Du bekommst jetzt auch schon Kopffleisch.« »Kopffleisch« – Welch brutal treffendes und exaktes Deutsch! Die Sprache des Volkes!
    Nie wieder wird ein Urlaub so unendlich herrlich lang sein wie in fernen Kindertagen. »Ja, alles ist relativ«, so formulieren wir es theoretisch. Und praktisch? Wie sagte 1977 meine Suhler Oma? »Irgendwie vergeht die Zeit heute viel schneller als früher, obwohl ich jetzt viel langsamer die Treppe hochkomme!« Ja, ja, ich muss bis heute für die Relativitätstheorie kein Beispiel von Einstein bemühen. Meine Familie hat mir immer ganz praktisch geholfen, diese zu begreifen.
    Sie musste so manches Mal beim Begreifen helfen, zum Beispiel wenn ich nicht wusste, was die Uhr geschlagen hatte . . . Im kleinen Kabüffterchen, einer Art Wohnzimmer, stand auf dem Vertiko neben dem Chaiselongue und dem Goldfischglas eine Taschenuhr in Augenhöhe eines 8-jährigen Kindes, also meiner. Sie stand in einem Rehbockgeweih und war von solch schlichter, umwerfender Schönheit, dass ich mich schon damals in sie verliebte, sozusagen von Stund’ an. Nur konnte ich nicht wissen, dass sie mir keine Stunden mehr schlagen konnte, denn sie war stehen geblieben. »Irgendwann im Krieg gegen die Franzosen«, dozierte mein Opa. »Und warum machst du sie nicht ganz, Opi? Eija bitte, bitte«, girrte ich.
    »Sie ging im Krieg kaputt. Sie ist ein Andenken an meinen Vater, also deinen Urgroßvater, verstehst du? Sozusagen ein kleines Denkmal an den Gefallenen.«
    »Dann ist wohl Urgroßvater Karl hingefallen und dabei blieb die Uhr stehen?«
    »Nein, nein.«
    »Ich meine, ist sie beim Hinfallen kaputt gegangen? Um

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