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Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Titel: Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Steimle
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wieso ich ruhig bleiben sollte, schweigen angesichts der Ungerechtigkeit, die da herrschte im Vorderhaus der Leipziger Straße 226. Die im Vorderhaus hielten sich immer für etwas Besseres. Beispiel gefällig?
    Die junge Frau Hofmann, die schon über 50 war, aber deshalb »die junge« hieß, weil es in derselben Familie noch eine alte Frau Hofmann gab, die die Schwiegermutter der Jungschen darstellte, weshalb sie auch Hofmann hieß; die war gar nicht viel älter – so kam es mir jedenfalls vor. Die Junge war, wie gesagt, schon über 50 und für mich hornalt. Wie alt die Alte war? Jünger … ich weiß es nicht.
    Herr Hofmann, der Sohn der Alten und Mann der Jungen, war ein Grobian, und ich erinnere mich noch daran, dass er – sommers wie winters – nur mit schwarzem Lederhut und blauem Arbeitsmantel unterwegs war. Meine Mutti sagte immer:«Dor Blockwart«, denn dieser Bösewicht, der selten sprach und Kinder hasste, lauerte allzeit lungernd im Haus
herum. Wahrscheinlich brauchte er gar keine Wohnung, denn er war ständig unterwegs und machte sich einen Spaß daraus, uns Kinder zu erschrecken. Mit seinem dämlichen »Bui!« oberhalb des Hochparterres nagelte er mich oft auf dem Treppenabsatz fest.
    »Wo willst du denn hin, kleiner Mann?« »Zu Frau Domaschke, den weißen Elefanten anschauen, aus Porzellan. Wirklich, Herr Domaschke hat mich extra eingeladen«, erwiderte ich ängstlich. »Domaschkes schlafen, komm später wieder!«, und dabei fegte er den Flecken Linoleum auf der 4. Treppe. Anschließend wurde dieser geschrubbt, eingebohnert und blank gewienert mit der Keule, »dor Bohnerkeule«.
    Und wehe, ich betrat den Fleck, geschweige denn die Treppe!
    Das konnte ich schon als kleines Kind nicht einsehen, und später habe ich es immer als zutiefst abartig und abstoßend empfunden, kleinlich, überflüssig und völlig hohl. Die Zeit, die dabei sinnlos totgeschlagen wurde!
    Für einen Fetzen Linoleum sperrte Hofmann – mit einem f – quasi das gesamte Vorderhaus ab. Und das Schlimmste daran war, dass alle Hausbewohner es ab sofort genauso zu machen hatten. Linoleumfleck kehren, schrubben, einbohnern, einziehen lassen, dann blank bohnern, und zwar blankfein mittels Bohnerkeule, und zum krönenden Abschluss durfte man den Fleck eine halbe Stunde nicht betreten. Nein, der Fleck musste ziehen. Noch mal:
    Ein Fleck musste ziehen … Deshalb war die gesamte Treppe gesperrt, weil ein 25 cm 2 großer gebohnerter Linoleumfleck ziehen musste. Ist das nicht absurd? Nein, das ist deutsch!
    Und damit auch niemand der Vorder-und Hinterhäusler auf die Idee kam, sich um den Fleck zu mogeln, wurde die Treppe, wie bereits erwähnt, abgesperrt. Ein Seil spannte sich von dem vom Messingknauf bekrönten Geländer einmal quer zur Hauswand hin, in welcher ein extra eingeschlagener
Haken bereitwillig das Seilende aufnahm. Alles diente diesem dämlichen, lächerlichen und völlig nutzlosen Fleck, einschließlich der Parole auf dem Absperrschild: »Vorsicht! Treppe frisch gebohnert!«
    Warum mir dies alles noch so präsent vor Augen ist und warum ich mich so lang und breit noch nach 40 Jahren so »eschowiewiere«? Weil sich in diesem kleinen Fleck der Geist, oder besser gesagt, der Klein- und Ungeist der Hofmanns widerspiegelte, und von denen gab es (gibt es?) nicht wenige.
    Der Krieg war damals gerade 26 Jahre zu Ende. Und Menschen wie Herr Hofmann – mit einem f – brauchten eine Aufgabe. Halt, einen Posten! Den hatten sie nämlich oft in der Nazizeit. Und sie wollten glänzen wie der Fleck und beweisen, dass sie sehr wichtig, sehr vorbildlich, sauber und wachsam sind, vor allem »sehr«.
    Und wehe, ein 8-jähriger Knabe will zu Frau Domaschke, die Zunge des Porzellanelefanten ansehen! Der hat zu warten, bis der Fleck eingezogen ist, also besser: abgetrocknet. Es könnte ja jemand ausrutschen auf dem … na, Sie wissen schon …
    Nachdem ich also nach 26 Minuten wiederkam, um erneut Anlauf auf Frau Domaschkes Elefanten zu nehmen, war noch immer abgesperrt. Da ich nun Anstalten machte, das Seil übersteigen zu wollen, schoss die junge Frau Hofmann – mit einem f – wie von der Tarantel gestochen und ohne Vorwarnung aus Richtung Kellertreppe hervor.
    Nun passierte etwas, wovon ich noch heute manches Mal schweißgebadet aufwache:
    Mit einem Schrubber bewaffnet, seifte sie mir zehnmal mit kurzen hektischen Stößen den Rücken ab. Mein neuer brauner Anorak aus der Schweiz, Mutti hatte einen Großteil ihrer Jahresendprämie

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