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Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Titel: Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Steimle
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mich, leise flüsternd, hilfe- und antwortsuchend, an meine Oma. Die nahm mich unter ihre Natoplane, denn ein kleiner Husch ließ es im Steinweg dröppeln, und erklärte genau:
    »Die Schwellen sind aus Hartholz, Buche, weißt du, und die alten Leute konnten früher oft ihre Füße nicht heben und traten demzufolge auf die Schwelle. Manche blieben auch einfach darauf stehen, sodass mit jedem Schwellentritt das Hartholz immer mehr abgetragen, also ausgelatscht wurde, und dadurch entstand diese Rundung im Holz, und das sieht doch nun wirklich nicht sehr schön aus.« »Verstehe«, schwindelte ich scheinheilig und wollte noch einen letzten Versuch starten, doch noch einmal in meinem Leben eine Hartholzschwelle betreten zu dürfen. »Oma, warum wechselt ihr die Schwellen nicht aus und betretet sie dann nach Herzenslust?«
    »Bist du leise«, zischelte meine Oma ängstlich, »du weißt doch, wie teuer Buche ist.«
    »Nein. Es heißt doch, Buchen sollst du suchen, Oma.«
    »Ja, aber nur bei Gewitter . . . Außerdem müssen die Schwellen noch eine Weile halten und nicht wegen dir ausgewechselt werden.«
    »Wegen mir doch nicht.«
    »Pst! Wenn Opa das gehört hätte, Jüngle, hättest du jetzt gleich wieder nach Hause fahren dürfen. Sei nicht immer so aufmüpfig, außerdem weißt du, dass dein Opa Otto sehr jähzornig werden kann!«
    »Aber doch nicht wegen . . . Schwellen betreten?«
    »Doch, gerade wegen Schwellen betreten. Alle deine Vorfahren,
auch die alten Leute, standen immer par du auf den Schwellen rum.«
    »Alle?«
    »Ja, alle! Deswegen sind sie ja so abgelatscht.«
    Jetzt wusste ich endgültig Bescheid. Nur um Opa zu ärgern, standen alle unsere Vorfahren immer auf den Schwellen rum. Sie machten keinen großen Schritt wie normale Leute, sondern brachten den 100 Jahre später geborenen Otto Steimle noch im Nachhinein, genauer gesagt, noch vor seiner Geburt, damit zur Weißglut. »Familienbande«, schoss es mir durch den Kopf. Alle waren nur auf der Welt, um Opa zu ärgern, und daran wollte ich mich nicht beteiligen.
    Nach dieser völlig logischen und einleuchtenden Erklärung habe ich bis heute nie wieder eine Türschwelle betreten, bei keinem Menschen. Das ist Erziehung. So entstehen Phobien. Seither teile ich die Menschheit ein in Schwellenbetreter und rücksichtsvolle Leute. Kurz: Um jeglicher Notwendigkeit von Erziehungsmaßnahmen für meine Familie und folgende Generationen vorzubeugen, gibt es bei uns zu Hause keine Schwellen mehr. Sie haben richtig gelesen: keine einzige Schwelle. Ich habe sie abbauen lassen.
    Diese Schwellenangst führt aber neuerdings bei mir zu ganz merkwürdigen Assoziationen, zum Beispiel, wenn es um Schwellenländer geht: Denen traue ich nicht über den Weg, geschweige denn . . . schwellen wir drüber.
    Mein Opa konnte aber auch ganz anders. Zum Beispiel liebevoll mir den Wald erklären. Nie wieder schmeckten Pilze, Heidel- und Brombeeren so gut wie in meiner Kindheit. »Die arme Leut gehn nach Gerschgereit.« (Die armen Leute gehen nach Gerhardsgereuth.) Ja, mit solchen Weisheiten wuchs ich auf: »Der Sozialismus siecht. – Ja, er siecht dahin!« Oder: »Der Mensch beherrscht die Natur und die Natur die LPG.«
    Oder: »Du bist so gescheit wie sechs Dumme.« Oder:
»Was versteht der Ochse vom Sonntag, wenn er alle Tage Heu frisst?!«
    Mein Opa war sehr gebildet, trotzdem habe ich ihn nie arbeiten sehn. Einmal, im Wald, ich weiß es bis heute, sprach ich, damals 12-jährig, ihn daraufhin an. Ich hüpfte über die Wiesen, die Sonne schien, ich war herzensfroh. Mein Opa Otto lief ungefähr 20 Meter vor mir, sodass ich aus einiger Entfernung rufen musste: »Opa, warum musst du gar nicht mehr arbeiten?« Mein Opa blieb wie angewurzelt stehen, drehte sich zu mir um und schrie aus voller Kehle: »Im Wald herrscht Ruhe!« Oh, das stimmte. Wie oft hatte er mir eingebläut, dass im Wald Ruhe zu herrschen hätte, angelehnt an Goethes »Über allen Gipfeln ist Ruh«. Mit diesem Goethe-Gedicht wurde mir diese Tatsache quasi in die Wiege gelegt. Dieses donnernde »Im Wald herrscht Ruhe!« war angesichts der Stille in ebendiesem Wald einfach irrsinnig komisch. Kaum kann es einen größeren Widerspruch in der Erziehung geben als diesen phonetischen Amplitudenüberschlag.
    Dialektik musste mir deshalb niemand mehr erklären. Widersprüchlicher geht’s nimmer.
    Wahrscheinlich widerstand ich auch deshalb späteren Anwerbungen der Parteien.
    Ich wurde im Wald aufgeklärt, ganz praktisch …

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