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Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Titel: Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Steimle
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dafür hingeblättert, war perdu, und ich blieb geschockt, wie angewurzelt, auf der vierten Treppe stehen.
    Mutti meinte nur lakonisch: »Warum bist du denn nicht weitergelaufen?« »Mensch, Mutti, ich konnte nicht.«
    Ich war fassungslos, dass es Erwachsene gab, die zu Kindern so gemein waren und sich darüber auch noch diebisch freuen konnten. »Dich meld’ ich«, schrie Frau Hofmann – jung.
    Und ich, blind vor Wut, schrie zurück: »Lerne Schweigen, ohne zu platzen!«?
    Eines aber habe ich doch gelernt, als mir der Pelz gewaschen wurde: Es gibt Menschen mit einer Wirbelsäule, und dann gibt es noch welche mit einem Rückgrat. Das weiß ich aber erst heute, gefühlt habe ich es schon damals.
    Oder wie Goethe noch treffender formulierte: Es gibt solche und solche, und dann gibt es noch die anderen, und das sind die schlimmsten.

Von der Seele, einer Tür zur Welt und Bäcker Pötschkes Kuchenrändern
    Er war »eine Seele von einem Menschen«.
    Das ist wohl so ziemlich das Höchste, was man von einem Menschen sagen kann.
    Eine »Seele von einem Menschen« meint doch immer das Gütige, das Weiche, das ausgewogen Ruhige.
    Eine Seele aber besteht aus vielen einzelnen Seelen. Nicht »Seelchen« wie im russischen Märchen, sondern Seelen, die aufgespalten sind, die nebeneinander existieren, gleichberechtigt, im glücklichsten Falle harmonisch.
    Neulich hörte ich den Disput zweier Seelsorger, zweier »sich um die Seele Sorgender«.
    Und einer dozierte ganz unmissverständlich: »Es gibt eine kulturelle Seele des Menschen, eine soziale Seele, eine sexuelle, eine kindliche, eine männliche und eine gefühls … Kurz: Ein Mensch ist aus vielen Einzelseelen zusammengesetzt, und wenn er, der Mensch, Glück hat, wird daraus eine Persönlichkeit.«
    Bum! Das hatte gesessen. Kein Widerspruch! Sonnenklar.
    Mir war, als hätte ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas vollständig begriffen. Einleuchtend, nachvollziehbar, hart, kurz, schmerzlos. Und dieser Satz war nicht nur für mich bestimmt, was ihm zu umso mehr Gewicht verhalf.
    Es blieb mir nichts anderes übrig: Ich musste nun herausfinden, ob ich eine war. Eine was? Eine Persönlichkeit.
    Gut: Im früheren Leben, also bis 1989, war ich eine, sogar von Geburt an. Wenn auch nur eine sozialistische. Aber immerhin, und das wollen wir nicht vergessen: Ich, Uwe, war
nicht nur eine sozialistische Persönlichkeit, sondern auch und sogar eine, ja, vor allem eine allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit.
    Eine Seele, die ja nachweislich nicht aus Materie besteht, sollte ich eigentlich nicht haben im Sozialismus; die hatte keinen Platz in der Marx’schen materialistischen Philosophie; aber eine Persönlichkeit, eine allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit, das war ich, und das sollte ich auch sein.
    War sie nicht im Sinne der modernen Seelsorger, diese ideale, allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit? Wohl eher nein, wie ich die Sache sehe, bzw. nur sehr eingeschränkt.
    »Allseitig gebildet« … klingt wie unfehlbar, vollkommen, nichts in Frage stellend. Wollte ich das sein? Wer war ICH? Und da erinnerte ich mich an meinen Weg und erinnerte mich an Lessing.
    In der neunten Klasse hatte ich einen Satz vom großen Aufklärer und Theatermacher und Kamenzer Sachsen Lessing gelesen. Einen Satz, der mich schon damals veränderte, weil er tröstete, anspornte, Zeit gab. Immer wieder in meinem Leben war das so, und immer wichtiger wurde der Satz: »Eigene Erfahrung ist Weisheit«.
    Was hatte ich erfahren, das mich reifen ließ, »weise« machte im Alter von sechzehn?
    Ich kam im Hinterhaus zur Welt. Nicht in irgendeinem Hinterhaus, sondern im ersten.
    Die Zahl sagt’s. Im Vorderhaus konnte jeder wohnen, ins erste Hinterhaus durften nur Auserwählte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich zu dieser Ehre kam. Wer zu uns wollte, ging zuerst durch eine große dunkelbraune Haustür. Dreiflügelig und so schwer, dass man seine Lederhose kräftig dagegen drücken musste, um sie dann mit der Hüfte aufstoßen zu können.
    Im Sommer trug ich kurze Lederhosen, im Winter lange mit »Kniern« drunter. Die rollten immer runter, sodass ich
ständig gebückt laufen musste, um sie wieder hochzukrempeln. So war mein Blick der Erde näher als dem Himmel. Weil der Kniestrumpfgummi nicht elastisch war, wurde mein Rückgrat krumm. Die Weichmacher im Gummi fehlten; die DDR verfügte nicht über genügend Weichmacher.
    Das war mein Segen, wie ich heute weiß.
    Meine Tür zur Welt war

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