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Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Titel: Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Steimle
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fallen quasi unter den Tisch, unter den nicht vorhandenen in diesem Falle. Sie brauchen auch keine Tischdecke. Positiv sehen  – alles! Immer darum geht es doch letzten Endes.
    Sie haben nichts? Dann können Sie auch nichts verlieren. Lächeln Sie! Was, Sie haben Krebs? Bleiben Sie glücklich, denken Sie positiv! Sie haben 100 Bewerbungen geschrieben, wurden 200-mal abgelehnt? Lächeln Sie, denn nun haben Sie eine neue Chance für eine neue Bewerbung. Vielleicht klappt’s ja diesmal. Und schließlich und letztendlich ist doch nur entscheidend: wie Sie sterben. Aber ja!
    Neulich sagte mir ein ernst zu nehmender Italiener, freundlich allemal: »Wenn die letzte Stunde deines Lebens froh war, war es auch das ganze Leben.«
    Ja, sterben wir froh. Besser noch, sterben wir in Zukunft noch froher!
    Ehrlich gestanden, mir geht diese ganze »Gerne doch« – Generation gewaltig auf den Docht. Vor kurzem wollte ich in einem Hotel absteigen, und als ich die Lobby (die Vorhalle) betrat, flötete mir die Empfangsdame entgegen: »Schön, dass Sie wieder zurück sind.« Ich war nie zuvor in diesem Hotel. Nein, Nein, das ist nicht mehr die Ausnahme, das ist die Regel!
    »Coffee to go«, auch »Kaffee to go« oder »Cafe to go« …
    Daran haben wir uns ja schon gewöhnt. Aber in Leipzig sah ich neulich einen Laden, da stand dran: »Bio to go«. In
Erfurt gab es ein »Sofa to go« und beim Fleischer gab’s »Hirn to go«.
    Es gibt auch Speiseeis »Dr. Schiwago« mit Happy End …
    »Nehmen Sie doch die Familienpackung.«
    »Aber ich lebe doch allein.«
    »Aber Sie sparen.«
    »Ja, aber ich zahle 50% mehr.«
    »Die Packung ist ja auch mehr wert.«
    »Was interessiert mich der Mehrwert?! Mir geht es um den Nährwert, und der ist mir zu groß.«
    »Da gibt es nur eine Lösung: Schaffen Sie sich eine Familie an.«
    Diese Geschichte hat nur einen Haken: Eine so geduldige Verkäuferin kann sich kein Geschäft leisten – also kaufen Sie lieber gleich die Familienpackung Eis »Dr. Schiwago«, und fragen Se ja ni! Schon das Wort »Verbraucher« verrät, worum es geht. Verbrauch’ oder stirb. Verbrauch’ schneller, stirb schneller, stirb dann aber schön. »Gerne doch!«
    Mehr Verbraucher sterben noch schöner. – Auf die letzte Minute kommt es an. Sie erinnern sich? Gestern stand in der Zeitung: Ein Bankberater empfahl einer knapp 90-jährigen Dame Fondsanteile, Laufzeit 25 Jahre, als Geldanlage fürs Alter . . . Todsicher! . . . Die Dame hat sich nicht mehr gemeldet.
    Ich liebe die deutsche Sprache. Jetzt erst begreife ich das sinnige Wort: »Bankberater«.
    Oder »Gläubiger«? Wer glaubt da an wen? Auf meinem Kontoauszug stand neulich: Soll – Haben ... Da warte ich heute noch droff. Wissen Sie, was heute in der Zeitung stand? »Die Schweigeminute dauerte 30 Sekunden.«
    Hüllen wir uns für 30 Sekunden in Schweigen, bevor ich Ihnen von Thüringen berichte und von meinem Opa, der zu Lebzeiten gar nicht schweigsam war, eigentlich nur im Wald, aber auch da nicht immer, was an seinem Temperament lag.
    Ich möchte Ihnen eine Begebenheit aus meiner Kindheit erzählen, die sich in der Ferienzeit abspielte, in einer Zeit, da Minuten noch 60 Sekunden dauerten und der Zug planmäßig eine Dreiviertelstunde in Jena-Göschwitz stand, weil die Lok umgehängt werden musste. Eine Zugfahrt von Dresden nach Suhl, wo meine Großeltern in der autonomen Gebirgsrepublik in Wohnhaft lebten, dauerte neun Stunden. Wie gesagt: Elektrifiziert war die Strecke nur bis Oberhof, danach kam die Dampflok zum Einsatz. Niemand beschwerte sich in Jena-Göschwitz über den Aufenthalt, denn er war ja planmäßig, und man hatte auf diese Weise auch Zeit, Bockwurst und Apfelfips auf dem Bahnsteig zu kaufen. Der Apfelfips klebte immer, da die Plasteeinlagen im Kronkorken nicht ganz dicht waren, und das war beileibe nicht das Einzige im Arbeiter-und Bauernstaat, was nicht dicht war. Doch war ich heilfroh, die kleinen 0,25-Literflaschen überhaupt zu bekommen, denn in Dresden war Apfelfips meist ausverkauft. Als Kind dachte ich: »Ein Glück, dass Urlaub ist, sonst würde der Zug in Göschwitz gar nicht halten dürfen.« Wo sollte ich denn Fips tanken, um nicht halb verdurstet in Suhl meinen Großeltern in die Arme zu sinken? Urlaub, das war Apfelfips in Göschwitz, und zwar planmäßig.
    Mein Vati besorgte den Fips, und im Gewühle der Menschenmassen verlor ich ihn manchmal aus den Augen, und so hatte ich panische Angst, allein abfahren zu müssen, womöglich der

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